Mehr Sinn, bitte! Inspiriert von ihrer Zeit in der Entwicklungshilfe, wagte die Arbeits- und Wirtschaftspsychologin Liesa Kullrich 2016 den Seiteneinstieg in den Schuldienst. Bis heute hat die engagierte Lehrerin diesen Schritt nicht bereut und schätzt die Möglichkeit, positiv auf nachwachsende Generationen einzuwirken.
»›Hier ist die Klasse, los geht‹s‹ lautete damals die Ansage«, erinnert sich Liesa Kullrich lachend an ihre ersten Tage am Förderzentrum Burkartshain (Wurzen) mit dem Förderschwerpunkt Lernen. »Ich bin da mit der größtmöglichen Neugier rangegangen.« Man könnte es auch als großen Mut bezeichnen. Eine spezielle Vorbereitung für den Seiteneinstieg ins Lehramt gab es für Liesa Kullrich initial nicht. Ihren Start beschreibt sie daher als gegenseitiges Rantasten. »Wir haben mit dem Kollegium gemeinsam herausgefunden, welche Stärken ich einbringen kann«, erklärt Kullrich. Die Möglichkeit, nach einem Jahr auszusteigen, nahm den Druck und machte den mutigen Schritt leichter. Schließlich war die Anstellung befristet, was Liesa Kullrich die Freiheit gab, das kalkulierte Risiko einzugehen. Dieser Aspekt gab ihr auch während der ersten Babypause die nötige Gelassenheit. Nach vier Monaten Elternzeit kehrte die Seiteneinsteigerin zurück und ist seither geblieben.
Berufliche Wende
Dabei hätte ihr beruflicher Weg auch ganz anders aussehen können: 2013 hatte Kullrich ihr Studium der Arbeits- und Wirtschaftspsychologie mit einem Master abgeschlossen. Die letzten Semesterferien vor den Prüfungen wollte sie dafür nutzen, »etwas ganz Verrücktes zu machen«. Über einen Suchdienst fand sie ein Volontariat in der Entwicklungshilfe – bei einem deutschen Verein in Kambodscha, der Schulen, Kinderheime und medizinische Projekte betreut. Nach dem Master kehrte Kullrich als angestellte Projektmanagerin nach Phnom Penh zurück. Als sie 2016 wieder nach Deutschland kam, überlegte sie, welche Tätigkeiten sie in der Arbeits- und Wirtschaftspsychologie überhaupt reizen würden. »Aber nach den Erfahrungen in Kambodscha erschien mir Büroarbeit zu oberflächlich. Den ganzen Tag auf den Bildschirm schauen? Nein«, so Kullrich. Ihre Mutter, selbst eine grundständig ausgebildete Lehrerin, motivierte sie, sich als Seiteneinsteigerin für den Schuldienst zu bewerben – mit Erfolg. Nachdem sie ihre schulische Tätigkeit begonnen hatte, bildete sich Liesa Kullrich berufsbegleitend in Leipzig weiter und studierte den Förderschwerpunkt Lernen. Im Jahr 2020, während der Pandemie und nach der Geburt ihres zweiten Kindes, eignete sie sich außerdem, zu großen Teilen digital, Grundschuldidaktik an.
Gemeinsam stärker
Dass der anfängliche Wechsel in den Schuldienst so gut gelang, lag vor allem an der positiven Grundstimmung im Kollegium. »Der Zusammenhalt bei uns ist sehr gut«, sagt Kullrich. Alle seien beeindruckend ergebnisoffen an die Situation rangegangen, dass jemand als Seiteneinsteigerin zum Team hinzustößt. »Meine Kolleginnen und Kollegen beantworteten sogar meine ungewöhnlichsten Fragen, ohne zu zögern«, erzählt die Lehrerin. Zusätzlich erhielt Liesa Kullrich eingangs fachliche Unterstützung von ihrer Mutter. »Sie hat mich ganz zu Beginn angeleitet, wie man eine Stunde aufbaut«, so Kullrich. Von der Schulorganisation bekam sie einmal die Woche eine Mentorin an die Seite gestellt, mit der sie punktuell drängende Fragen klären konnte. »Aber meine Kolleginnen und Kollegen öffneten ihre Schränke, zeigten mir ihre Materialien und standen mir immer zur Seite.« Dies, zusammen mit der familiären Atmosphäre der Schule und dem täglichen Austausch mit den Kolleginnen und Kollegen, hat ihr den Einstieg extrem erleichtert – »insbesondere weil ich fachlich aus einem ganz anderen Bereich kam. Meine Erfahrung konnte ich allerdings auch positiv für alle einsetzen«. Kullrichs Wissen aus dem Psychologiestudium und die Erkenntnisse aus ihrer Arbeit in der Entwicklungshilfe wurden zum Bonus. »Nichts geht ohne Bindung. Das habe ich wirklich verinnerlicht«, so die Lehrerin. »Besonders in meiner Schulform sind viele Schülerinnen und Schüler wegen einer schwierigen Vorgeschichte gar nicht lernbereit«, erklärt sie. Da helfe nur Beziehungsarbeit und das Vertrauen darauf, dass dadurch mit der Zeit vieles leichter werde.
Eine Couch im Lehrerzimmer
In der Arbeit mit Kindern ist auch die Fähigkeit zum Perspektivwechsel ungemein wichtig, weiß Kullrich. »Und wenn man schon mal außerhalb des Kontextes Schule gearbeitet hat, schaut man leichter über den Tellerrand.« Nichtsdestotrotz gibt es Momente der Frustration. Dann tut es ihrer Meinung nach gut, das vor Kolleginnen und Kollegen auch mal mitteilen zu können und sich Zuspruch abzuholen. Auch wegen ihres ursprünglichen Studiums ist Kullrich eine beliebte Ansprechperson. »Ich habe Kolleginnen in meinem Team, die sagen: ›Wir bräuchten eigentlich eine Couch im Lehrerzimmer, auf der du ein paar Stunden anbieten könntest‹«, erzählt sie lachend. »Als Psychologin höre ich noch mal anders hin.« Dass sich in ihrem Kollegium alle mit ihren unterschiedlichen Kompetenzen einbringen und einander unterstützen, empfindet sie nicht nur als essenziell für eine gute Zusammenarbeit, sondern auch als unverzichtbar in ihrem Beruf: »Wenn man sich als Lehrerin oder Lehrer nicht mehr gegenseitig berät, hat man das Ende erreicht.«
Kurs auf die Zukunft Seit Februar 2024 ist Liesa Kullrich mit ihrem erfolgreich absolvierten Referendariat als Lehrerin fertig ausgebildet. »Klar hatte ich in der ganzen Zeit öfter mal eine Stunde, nach der ich gedacht habe: ›Oh je, was habe ich denn da gemacht‹«, erzählt sie. »Aber ernsthaft überlegt, den Schuldienst wieder zu verlassen, habe ich nie.« Heute unterrichtet sie Deutsch, Mathe und Sachunterricht und hat seit den Sommerferien die Leitung für eine 1. Klasse inne – etwas, das sie sich viele Jahre gewünscht hat. »Besonders schön finde ich, dass man langfristig an etwas arbeitet – mit den Kindern zusammen. Am Ende nehme ich so auch Einfluss auf die nachwachsende Generation«, so Kullrich.
Text: Nina Heitele
Foto: Matthias Rietschel
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