Stark für die Zukunft

Stark für die Zukunft

Das Niveau der schulischen Berufsorientierung (BO) im Freistaat Sachsen ist im Vergleich zu anderen Bundesländern hoch: Viele Akteure arbeiten mit passgenauen Angeboten gemeinsam daran, Schülerinnen und Schüler auf die Arbeitswelt vorzubereiten. KLASSE hat zwei Oberschulen besucht und zeigt, was erfolgreiche BO in der Praxis bedeutet und wie die Jugendlichen davon profitieren.

Liebevoll streichelt Leonie* die greisen Hände von Frau Müller*, die mit geschlossenen Augen im Rollstuhl sitzt. Ab und an flüstern die beiden miteinander, Frau Müller lächelt und entspannt sich von Minute zu Minute mehr. Eine rührende Szene im Altenpflegeheim von Großschönau, doch Leonie ist keine Pflegefachkraft, sondern 15 Jahre alt und Schülerin der 9. Klasse an der Pestalozzi Oberschule Großschönau an der deutsch-tschechischen Grenze. Jeden zweiten Dienstag hat Leonie – wie alle ihre Mitschülerinnen und -schüler aus ihrem Jahrgang Praxistag.

Praxistag heißt: An diesem Tag haben die Jugendlichen keinen Unterricht, sondern arbeiten in einem Betrieb der Region. So lernen die Schülerinnen und Schüler im Laufe der 9. Klasse insgesamt drei verschiedene Berufsfelder kennen. Eine große Herausforderung für das Kollegium und die Lernenden: »An der Stundentafel ändert sich nichts. Die vorgeschriebenen Stunden holen wir an den anderen Tagen nach«, sagt Lehrerin Andrea Erdmann, die an der Pestalozzi Oberschule für die Berufliche Orientierung zuständig ist.

Obwohl das Schuljahr damit anstrengender ist als eine reguläre 9. Klasse ohne Praxistag, wünscht sich Leonie, dass sie noch häufiger Einblicke in die Praxis bekommen kann. Ihre erste Station war im Kindergarten der Gemeinde, nach dem Altersheim möchte sie die Grundschule kennenlernen. Sie weiß schon jetzt, welchen beruflichen Weg sie später einschlagen möchte: Leonie träumt davon, Rettungssanitäterin zu werden. »Der Praxistag hilft mir, mit Menschen verschiedener Altersgruppen in Kontakt zu kommen und ihre Bedürfnisse kennenzulernen. Das bereitet mich perfekt auf meinen späteren Beruf vor«, sagt die Schülerin.

Nur wenige 100 Meter weiter montiert ihr Mitschüler Tony* neue Scheibenwischer in einer Kfz Werkstatt, seiner aktuellen Station. Er will später zum Zoll, findet den Praxistag »eigentlich ganz cool«, aber das zweiwöchige Blockpraktikum, das er in der 8. Klasse absolviert hat, besser. Lehrerin Andrea Erdmann kann ihn verstehen: »Klar, unser Konzept ist anstrengend und nicht der einfachste Weg. Oft hören die Jugendlichen dann von Schülern anderer Schulen, dass sie ihr Praktikum machen können, wo sie wollen, direkt um die Ecke oder am besten noch bei den Eltern. Das alles gibt es bei uns nicht.« Die Oberschule legt Wert darauf, dass die Jugendlichen Betriebe wählen, die zu ihren beruflichen Zielen passen.

Für Andrea Erdmann ist Berufliche Orientierung eine Herzensangelegenheit. Sie ist überzeugt, dass das BO-Konzept der Schule, das bereits in der 7. Klasse mit einer Auftaktveranstaltung und der Potenzialanalyse beginnt, aufgeht. »Unsere konsequente Arbeit über Jahre trägt Früchte«, sagt sie. Viele Jugendliche haben bereits ein Praktikum oder Praxistage in ihrem künftigen Ausbildungsbetrieb absolviert. »Die meisten Jugendlichen der jetzigen 10. Klasse waren schon zu Bewerbungsgesprächen eingeladen«, so Andrea Erdmann. Nur vereinzelt wissen Schülerinnen und Schüler in ihrem letzten Schuljahr nicht, wie es nach ihrem Abschluss weitergehen soll. Ist das der Fall, aktiviert die Schule die Berufsberatung der Arbeitsagentur, die immer am ersten Mittwoch im Monat vor Ort ist. Die Berufsberatung unterstützt die Jugendlichen und hilft bei wichtigen Fragen zu ihrer beruflichen Zukunft.

Anke Gerber arbeitet bereits seit 1996 als Berufsberaterin und betreut derzeit zwei Oberschulen und zwei Fachoberschulen in Dresden. Sie kennt alle »ihre« Schülerinnen und Schüler und weiß von deren Plänen, Träumen und Sorgen. Wie sich die Jugendlichen im Laufe ihrer Zeit als Berufsberaterin verändert haben? »Die Schülerinnen und Schüler haben sich eigentlich nicht verändert, sondern die Welt um sie herum, die immer komplexer und herausfordernder wird«, sagt Anke Gerber. Früher hätte es viel weniger Möglichkeiten für die Jugendlichen gegeben, heute müssten sie sich in einem Dschungel aus über 300 Ausbildungsberufen zurechtfinden. »Das macht die jungen Menschen ängstlicher. Sie haben Angst, sich falsch zu entscheiden. Deshalb müssen wir sie stärker an die Hand nehmen«, so die Berufsberaterin.

Davon ist auch Katharina Hausdorf überzeugt. Sie ist seit 2020 Schulleiterin der 66. Oberschule – eine der vier Dresdner Schulen, die Anke Gerber betreut. »Berufsorientierung in der Schule ist enorm wichtig. Wir merken, dass sich die Schülerinnen und Schüler sonst nicht intensiv genug damit beschäftigen. Die Unternehmen berichten uns, wie wenig junge Menschen oftmals auf eine Ausbildung vorbereitet sind. Dann brechen viele Jugendliche ihre Ausbildung ab. Das wollen wir unbedingt vermeiden«, erklärt die Schulleiterin. Für sie ist Berufliche Orientierung kein notwendiges Übel, sondern gesellschaftlicher Auftrag: »Schließlich wünschen wir uns alle für unsere Zukunft Fachkräfte, die gut und gerne ihren Beruf ausüben und mündige Mitglieder unserer Gesellschaft sind.«

Deshalb hat sie gemeinsam mit ihrem Kollegium ein Konzept entwickelt, bei dem alle – obligatorischen und fakultativen – Bausteine der Beruflichen Orientierung ineinandergreifen. Dazu gehört, dass Berufsberaterin Anke Gerber regelmäßig BO-Unterricht und individuelle Beratungsgespräche anbietet. Dazu gehört auch, dass Lehrerin Simone Brand intensiv mit den Schülerinnen und Schülern ab der 7. Klasse an dem Berufswahlpass für sächsische Schulen arbeitet, einem Portfolio für die strukturierte Zusammenstellung von Unter lagen im Prozess der Beruflichen Orientierung. Alle Beteiligten tauschen sich regelmäßig aus.

DER BERUFSWAHLPASS begleitet die Schüler der 66. Oberschule Dresden von der 7. Klasse bis zum Schulabschluss

Eine Besonderheit des Konzeptes ist die enge Kooperation mit Theegarten-Pactec, einem Dresdner Unternehmen für Verpackungsmaschinen in der Nähe der 66. Oberschule. Teil dieser Kooperation sind gemeinsame Elternabende, Betriebsbesichtigungen, Unternehmenspräsentationen und mehr. Egbert Röhm, Geschäftsführer des Unternehmens, ist zugleich auch Vorsitzender des Netzwerkes »SCHULEWIRTSCHAFT Sachsen«. Er engagiert sich, um Jugendlichen die Chance zu geben, den für sie passenden Weg zu finden.

»Ich glaube, wir haben als Gesellschaft ein großes Interesse daran, dass wir den jungen Menschen die Welt zeigen, die nach der Schule auf sie wartet. Die Berufsberatung oder eine Lehrwerkstatt können das allein nicht leisten. Die Schülerinnen und Schüler müssen einen echten Einblick in die Arbeitswelt erhalten«, erklärt er.

Von der Zusammenarbeit profitieren beide Seiten. Die 66. Oberschule kann ihre BO-Angebote verbessern, und Egbert Röhm findet die dringend benötigten Fachkräfte: »Einige ehemalige Schülerinnen und Schüler der 66. Oberschule sind inzwischen Auszubildende bei uns.« Auch für Andrea Erdmann von der Pestalozzi-Oberschule Großschönau zahlt sich das Engagement aus. Der Schule gelingt es, viele Jugendliche erfolgreich auf dem Weg in die berufliche Zukunft zu begleiten. »Eine Schülerin war nach ihren Praxistagen an der Grundschule so begeistert, dass sie jetzt das Abitur anstrebt und selbst Lehrerin werden möchte. Ein anderer Schüler hat enormes handwerkliches Talent, aber schlechte schulische Leistungen. Gemeinsam mit allen Beteiligten haben wir es geschafft, den Jungen zum Abschluss zu führen, heute macht er seine Ausbildung in einem Handwerksbetrieb der Region. Das sind die Geschichten, die uns Mut machen.«

Gut zu wissen

Im Zuge des Projektes »Bildungsland Sachsen 2030« soll die Berufsorientierung im Freistaat Sachsen künftig weiterentwickelt werden. Dabei geht es weniger um zusätzliche Maßnahmen, sondern darum, die schulische Berufsorientierung effektiver zu gestalten.

Die BO in Sachsen im Überblick

»Mit der Vermittlung von Alltags- und Lebenskompetenz und durch Berufs- und Studienorientierung bereitet sie die Schüler auf ein selbstbestimmtes Leben vor.« Das Sächsische Schulgesetz legt in § 1 Absatz 4 fest, dass die Berufs- und Studienorientierung zum Erziehungs- und Bildungsauftrag der Schule gehört.

4 Fragen an Saskia Heublein

Saskia Heublein leitet die Servicestelle Bildung bei der ENO mbH und setzt die Aufgaben der Regionalen Koordinierungsstelle für Berufliche Orientierung im Landkreis Görlitz um.

Wie trägt Ihre RKO konkret zur Beruflichen Orientierung bei?

Wir vernetzen die Akteure miteinander – die Schullandschaft und die ansässigen Unternehmen. Dabei ist uns der Regionalbezug sehr wichtig: Wir versuchen mit verschiedenen Angeboten sichtbar zu machen, dass es sich wirklich lohnt, hier in der Region zu bleiben.

Sie haben verschiedene Instrumente entwickelt, um jungen Menschen berufliche Perspektiven in der Heimat zu geben. Welche sind das?

Das ist zum einen unser jährlicher »INSIDERATLAS« für Ausbildung und Studium im Landkreis Görlitz, den wir gedruckt und digital (www.insider-goerlitz.de) anbieten. Zum anderen veranstalten wir die größte Messe (»INSIDERTREFF«) für Berufliche Orientierung im Landkreis – zuletzt mit rund 160 Ausstellern. In diesem Jahr wollen wir außerdem eine Praktikumsbörse auf dem »ONLINE-INSIDER« ins Leben rufen, damit auch kleinere Unternehmen, die nicht jedes Jahr ausbilden, sich präsentieren können.

Was wünschen Sie sich, um die BO zu verbessern?

Neben einer zuverlässigen Finanzierung, um unsere Angebote zu verstetigen und weiterhin in dieser Form anbieten zu können, ist aktuell mein großer Wunsch, die Qualität unserer Produkte zu verbessern. Wir brauchen nicht mehr Angebote. Vielmehr wollen wir genau hinschauen, was die Unternehmen und nicht zuletzt die Schülerinnen und Schüler wirklich brauchen. Deshalb werden wir in diesem Jahr auch eine Schülerumfrage durchführen.

Wo sehen Sie die Stärken der BO in Sachsen?

Das System der Beruflichen Orientierung in Sachsen ist ausgezeichnet – und wir RKO tragen dazu bei. Auch die Praxisberaterinnen und -berater, die Lernende an Oberschulen begleiten, sind enorm wertvoll. Ich wünsche mir, dass es die Praxisberatung flächendeckend und für alle Schulformen gibt – die BO muss auch an Gymnasien präsenter sein. Eine weitere maßgebliche Stärke ist das Netzwerk »SCHULEWIRTSCHAFT Sachsen«: Alle Akteure arbeiten zusammen, um den Jugendlichen berufliche Perspektiven im Freistaat zu geben.

Weitere spannende Beiträge lesen Sie in unserer neuen KLASSE.

Neue Welt des Lernens

 

Text: Antje Tiefenthal

Fotos: Uwe Meinhold | Matthias Rietschel

* Namen von der Redaktion geändert

Lynn Winkler, Redakteurin für Social Media in der Pressestelle des Sächsischen Staatsministeriums für Kultus

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