»Bildung braucht Haltung«

»Bildung braucht Haltung«

Welche Rolle spielt die schulische Demokratiebildung im Superwahljahr? Um Schulen in dieser herausfordernden Situation praxisnahe Unterstützung und Orientierung zu geben, hat KLASSE mit der Bildungswissenschaftlerin Anja Besand gesprochen. Sie ist Mitglied der Expertenkommission, die das Handlungskonzept »W wie Werte« überarbeitet hat.

Frau Besand, was ist das Handlungskonzept »W wie Werte« eigentlich genau?

Das Handlungskonzept »W wie Werte« ist ein Papier, das sich mit der Frage beschäftigt, wie demokratische Schulentwicklung und politische Bildung im Bundesland Sachsen verbessert werden können, und das in diesem Zusammenhang sehr konkret wird. In diesem Papier geht es nicht um blumige Sätze, sondern ganz konkret darum, zu sagen, was getan werden muss, damit die Strukturen für demokratische Bildung in Sachsen gestärkt werden. Das haben wir beim ersten »W wie Werte«-Prozess gesehen, und das werden wir auch im Kontext des zweiten Papiers sehen. Erinnern Sie sich noch? Vor dem ersten Papier haben wir in Sachsen mit Gemeinschaftskunde in Klasse 9 begonnen – danach in Klasse 7. Überall war der Satz zu hören: »Politische Bildung ist nicht nur ein Fach, sondern Querschnittsaufgabe.« Aber es gab keine systematische Vorbereitung der Lehrkräfte auf diese Aufgabe. Auch das hat sich in der Zwischenzeit geändert. Das sind jetzt nur zwei Beispiele, aber das ist schon eine Veränderung ums Ganze. Ich hoffe sehr, dass auch das neue Papier diese Kraft entwickelt. Aber ich bin in diesem Zusammenhang eigentlich zuversichtlich. Die Kommission hat intensiv gearbeitet und die Notwendigkeit weiterer Maßnahmen angesichts der derzeitigen Lage in den Schulen, denke ich, schon sehr deutlich gemacht. Die Handlungsempfehlungen selbst kann ich hier jetzt nicht alle aufzählen und würde die Vorstellung der konkreten Punkte auch gerne dem Ministerium überlassen. Unsere Kommission hat das Papier am 2. Februar dem SMK überreicht. Dort ist es, soweit ich weiß, derzeit in einem Prozess, der sich ganz konkret mit der Umsetzungsplanung beschäftigt und an dem alle betroffenen Abteilungen des SMK und des LaSuB beteiligt sind.

An wen richtet sich das Papier denn genau?

Das Papier richtet sich an unterschiedliche Akteure. Zuallererst ist es ein Papier, um die Strategie des Kultusministeriums im Hinblick auf die Stärkung und die Fortentwicklung demokratischer Schulentwicklung im Bundesland Sachsen anzuregen. Als fertiges Papier richtet es sich dann an Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Schulaufsicht, die mit der Lehrerbildung betrauten Einrichtungen im Freistaat Sachsen sowie die bereits kooperierenden beziehungsweise an einer Zusammenarbeit interessierten staatlichen und nicht staatlichen Institutionen. Es richtet sich aber auch direkt an Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler und Eltern, denn demokratische Schulentwicklung kommt nicht nur top down, sondern auch bottom up zustande.

Was genau steht nun in dem neuen Papier?

Uns als Kommission ging es zum einen darum, etwas nachzubessern, was die Vielfalt von Schularten angeht. Das heißt, Sie können erwarten, dass im neuen Papier konkrete Handlungsempfehlungen für alle Schularten enthalten sind – und zwar sehr spezifische. Zum Beispiel für die Grundschule, die beruflichen Schulen und auch die Förderschulen. Wichtig war der Kommission zudem, den Handlungsdruck auf Lehrkräfte nicht noch weiter zu erhöhen, sondern auch darüber nachzudenken, was sie beispielsweise an zeitlichen Ressourcen benötigen, um der Aufgabe demokratischer Schulentwicklung nachhaltig nachkommen zu können. Demokratische Schulentwicklung braucht Zeit und sie braucht einen Rahmen, denn alle gesellschaftlichen Konflikte bilden sich heute in der Schule ab. Da brauchen die Lehrkräfte nicht nur Appelle, sondern echte Unterstützung.

Müssen Lehrkräfte politisch neutral sein?

Das ist wirklich ein Mythos, der sich lange hält – obwohl ein Blick ins Schulgesetz oder die Landesverfassung hier eigentlich schnell Klarheit schaffen könnte. In der Sächsischen Landesverfassung steht in Artikel 101: »Die Jugend ist zur Ehrfurcht vor allem Lebendigen, zur Nächstenliebe, zum Frieden und zur Erhaltung der Umwelt, zur Heimatliebe, zu sittlichem und politischem Verantwortungsbewusstsein, zu Gerechtigkeit und zur Achtung vor der Überzeugung des anderen, zu beruflichem Können, zu sozialem Handeln und zu freiheitlicher demokratischer Haltung zu erziehen.« Manches klingt vielleicht ein bisschen antiquiert, aber am Ende kommt es dann doch recht klar und deutlich raus: Es geht um eine freiheitlich demokratische Haltung, um Toleranz und Respekt, Gerechtigkeit, Umweltschutz, Frieden … Das sind die Werte, die die Lehrkräfte in der Schule vermitteln sollen. Mit Neutralität hat das nichts zu tun. Es geht um die Werte des Grundgesetzes und durchaus auch um Überparteilichkeit – herausfordernd wird es, wenn wir mit Parteien konfrontiert sind, die im Konflikt mit den Werten des Grundgesetzes stehen. Hier braucht es eine klare Haltung. Übrigens ist das auch der Untertitel des Papiers »W wie Werte«: Bildung braucht Haltung.

Wie können Lehrkräfte eine konstruktive Streitkultur etablieren?

Zunächst geht es darum, anzuerkennen, dass zur Demokratie der Streit dazugehört. Es geht nicht nur um Konsens, sondern auch um Konflikt, und das spiegelt sich eben auch in der Schule. Im Prinzip ist das eine gute Sache, dass Schulen Orte sind, in denen Konfliktlagen sichtbar werden. Wir haben das im Umgang mit Pegida gesehen, in der Pandemie. Schulen sind die Orte, an denen über den richtigen Umgang gestritten wird, nicht nur mit den Schülerinnen und Schülern, auch mit den Eltern und allen, die in der Schule ein- und ausgehen. Es ist wichtig, dass Schulen diesen Konflikten nicht ausweichen, sondern ihnen wertegeleitet begegnen. Allerdings brauchen sie dafür auch Zeit. Zeit und eine klare Haltung, das ist das Allerwichtigste.

Was empfehlen Sie Lehrkräften in Sachsen für den Umgang mit politischen Parteien im Unterricht?

Es geht gar nicht so sehr darum, wie Lehrkräfte mit Parteien umgehen, sondern mit politischen Fragen. Politische Fragen sind im Kern immer darauf gerichtet, darüber nachzudenken, wie wir zusammenleben wollen. Auf diese Fragen gibt es unterschiedliche Antworten, die sich zuweilen auch politischen Richtungen oder Parteien zuordnen lassen – aber zuweilen auch quer dazu liegen. Über diese Fragen kann man sprechen, und dann kann man sich auch ansehen, was politische Akteure dazu zu sagen haben. Ich kann das vielleicht an einem Beispiel erklären. Wir können darüber sprechen, wie wir als Gesellschaft auf Herausforderungen reagieren wollen, die sich im Kontext der Migrationsfrage ergeben. Wir können aber nicht über die grundsätzliche Gleichwertigkeit aller Menschen sprechen, und wir sollten in diesem Zusammenhang auch darüber nachdenken, was gerade die wichtigsten und brennendsten Fragen sind. Migration gehört meiner Meinung nach nicht auf die ersten Plätze.

Lädt man im Rahmen der Demokratiebildung auch Vertreter von Parteien ein, die vom Landesamt für Verfassungsschutz Sachsen als gesichert rechtsextremistische Bestrebung eingestuft worden sind?

So, jetzt kommen wir zum Eingemachten. Stellen Sie sich mal vor, wir würden in die Schule Menschen einladen, von denen wir wissen, dass sie vom Verfassungsschutz als extremistisch eingestuft werden und die man gemeinhin als salafistisch bezeichnet. Na, da wäre in Sachsen aber was los. Man könnte das natürlich machen – aber dann muss man sich wirklich sehr gut vorbereiten, und ich glaube, da überschätzen sich manche ganz gehörig. Wir sehen ja, wie das in medialen Kontexten läuft. Auch sehr gut ausgebildete Moderatorinnen und Moderatoren scheitern an dieser Herausforderung. Es gibt Rechtsprechung zu der Frage, wie Podiumsdiskussionen (auch in Schulen) im Vorfeld von Wahlen aussehen sollen. Aber niemand zwingt uns, in Schulen solche Podiumsdiskussionen durchzuführen.

Welche Fehler können Lehrkräfte dabei machen?

Darauf gibt es keine kurze Antwort. Ich habe mit den Kollegen Rico Behrens und Stefan Breuer zusammen ein Buch geschrieben, in dem wir Handlungsstrategien ganz konkret beschreiben. Wenn ich das hier ganz grob zusammenfasse, dann sind viele Strategien als eher ausweichend zu beschreiben. Man geht dem Thema aus dem Weg. Das ist falsch.

Was ist die pädagogisch richtige Art, zu reagieren?

Auch das ist wieder nicht leicht in einem Satz zu beantworten. Meinen Studierenden rate ich immer: Vermeidet Indifferenz! Rassismus ist keine Meinung und darf auch nicht als solche erscheinen. Welche Strategie im jeweiligen Fall die richtige ist – darauf gibt es unterschiedliche Antworten. Aber Indifferenz sollte in Bildungssituationen in jedem Fall vermieden werden. Wir dürfen uns in Bildungssituationen nicht an der Normalisierung menschenfeindlicher, antidemokratischer Positionen beteiligen. Wir müssen solche Positionen mindestens als solche markieren.

W wie Werte

2018 hat das Sächsische Staatsministerium für Kultus das erste Handlungskonzept »W wie Werte« veröffentlicht – und erfuhr viel Lob für den Mut, dass es externe Fachleute damit beauftragt hatte, die Demokratiebildung voranzutreiben. Nun haben Expertinnen und Experten das Konzept überarbeitet. Die Neuauflage von »W wie Werte« wird in den kommenden Wochen veröffentlicht.

Auf der Seite politische.bildung.sachsen.de finden die Schulen unterstützende Materialien, Maßnahmen und Ansprechpersonen.

Weitere spannende Beiträge lesen Sie in unserer neuen KLASSE.

 

Text: Antje Tiefenthal

Lynn Winkler, Redakteurin für Social Media in der Pressestelle des Sächsischen Staatsministeriums für Kultus

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