»Meine Liebe war immer Deutsch«

»Meine Liebe war immer Deutsch«

Yuliia Didenko ist gemeinsam mit ihrer Tochter vor dem Massaker im ukrainischen Butscha nach Dresden geflüchtet. Seit dem Frühjahr 2022 unterrichtet sie geflüchtete Kinder und Jugendliche und hilft ihnen, sich hier geborgen zu fühlen und die deutsche Sprache zu lernen.

»Als der Krieg begann, haben wir uns im Keller unserer Nachbarn versteckt«, sagt Yuliia Didenko. Mit leiser und ruhiger Stimme erzählt sie davon, wie sie und ihre Familie Nacht für Nacht die Bomben über ihren Köpfen hörten, die im Frühjahr 2022 in Kiew einschlugen. Eigentlich möchte Yuliia Didenko gar nicht über das sprechen, was sie gesehen und erlebt hat. Sie stammt aus Butscha – dem Ort, dessen Name nach grausamen Kriegsverbrechen gegen die Zivilbevölkerung um die Welt gegangen ist.

Nach drei Wochen Angst entschied sie sich für einen radikalen Schritt: die Flucht nach Deutschland, »um mein Leben und das meiner Tochter zu retten.« Yuliia Didenko ließ Haus, Freunde, Familie und ihren Ehemann zurück – als wehrpflichtiger Mann darf er die Ukraine nicht verlassen. Knapp zwei Tage später erreichten Mutter und Tochter im Frühjahr 2022 die sächsische Landeshauptstadt.

Mit der deutschen Sprache aufgewachsen

Warum Deutschland? Eine Frage, über die Yuliia Didenko nicht lange nachdenken musste. Ihre ersten deutschen Worte lernte sie als Kind von ihrem Vater, der als Dolmetscher arbeitete. Statt deutschsprachiger Kinderbücher gab er seiner Tochter Lehrbücher zum Lesen. »Meine Liebe war immer Deutsch“, sagt Yuliia Didenko. Diese Liebe zur Sprache machte sie zum Beruf: In Kiew unterrichtete sie Deutsch und Französisch an einer Gesamtschule. Schon vor der Flucht war sie mehrfach in Deutschland und auch in Dresden – die Lehrerin begleitete ukrainische Kinder, die hier an Kulturprogrammen teilnahmen. Angekommen in Deutschland, konnten sie und ihre Tochter zwischen mehreren Orten wählen: »Wir entschieden uns für Dresden, meine Tochter wollte gern in eine größere Stadt, wir haben außerdem Bekannte hier.«

Eine deutsche Familie nahm Yuliia Didenko und ihre damals 15-jährige Tochter auf – »wunderschöne Menschen, die uns sehr, sehr geholfen und unterstützt haben.« Als Yuliia Didenko davon hörte, dass Dresden ukrainische Lehrkräfte suchte, um die geflüchteten Kinder zu unterrichten, meldete sie sich sofort. »Ich hatte zwar von Anfang an Sprachkurse für Frauen an der Volkshochschule gegeben, aber ich wollte mehr als das. Ich wollte nicht einfach zu Hause bleiben, ich brauchte etwas zu tun, wollte mich nützlich fühlen«, erklärt sie.

Ruhe und Struktur

Im April 2022 startete sie als Lehrerin an der eigens für geflüchtete ukrainische Kinder und Jugendliche eingerichteten Außenstelle der 116. Oberschule in Dresden. Schulleiter Tobias Jäger machte Yuliia Didenko kurzerhand zur stellvertretenden Schulleiterin. »Zum Start habe ich schnell versucht, Strukturen zu schaffen, damit die Schule funktioniert. Frau Didenko war mit ihrer herzlichen, offenen Art und ihren ausgezeichneten Deutschkenntnissen ideal, um gemeinsam mit mir und einem weiteren Kollegen aus der Ukraine diese Schule zu leiten«, sagt er. Schnell entschied das Kollegium, dass es zunächst einmal darum gehen musste, dass die Kinder sich aufgehoben fühlen und in Ruhe lernen können. Jedes Kind erhält wöchentlich zehn Stunden Unterricht Deutsch als Zweitsprache (DaZ), in den restlichen Stunden hielt sich das Team an die ukrainischen Lehrpläne, um die Anschlussfähigkeit zu gewährleisten. »Wir wussten ja nicht, wann und ob die Kinder wieder nach Hause können«, sagt Tobias Jäger.

In den knapp 1,5 Jahren hat Yuliia Didenko Erstaunliches geleistet: Sie hat nicht nur einen Ort geschaffen, an dem sich die Kinder ihrer Klassen geborgen fühlen können, sie hat vielen von ihnen die deutsche Sprache auch so vermitteln können, dass sie in Alltagssituationen zurechtkommen. Doch nicht alle Schülerinnen und Schüler erreicht die 44-Jährige. Ein Mädchen bleibt die gesamte Unterrichtsstunde über an ihrem Platz sitzen, arbeitet allein und bekommt von Yuliia Didenko eigene Aufgaben, während der Rest der Klasse gemeinsam Aufgaben löst. »Sie spricht nicht mehr mit anderen Menschen«, sagt ihre Lehrerin. Bei anderen Kindern sei es schwer, sie überhaupt zu motivieren, Deutsch zu lernen. »Sie wollen nach Hause, vermissen ihr Bett, ihr Zimmer, ihr Leben. Sie hoffen immer noch darauf, bald zurück in die Ukraine zu können.« Nach einer Pause fügt Yuliia Didenko hinzu: »Diese Generation an Kindern hat seelische Verletzungen erlitten, die ein Leben lang nicht mehr heilen werden.«

»Ukrainische« Schule wird aufgelöst

Umso dankbarer ist sie, dass das Land Sachsen diese Schule ermöglicht und ihr, dem Kollegium und den Kindern einen Ort gegeben hat, der sich ein kleines bisschen wie eine ukrainische Insel inmitten von Dresden anfühlt. Das sei gut und wichtig gewesen, um Sicherheit zu geben. Was aber jetzt fehlen würde, sei Integration. »Die geflüchteten Schülerinnen und Schüler haben kaum oder gar keinen Kontakt zu deutschen Kindern und Jugendlichen«, erklärt Yuliia Didenko. Zum Schuljahresende 2023/24 wird die Übergangsschule* deshalb aufgelöst, die Lehrkräfte und alle Schülerinnen und Schüler werden an Dresdner Regelschulen verteilt. Yuliia Didenko gehört zu den ukrainischen Lehrkräften, die zum neuen Schuljahr dauerhaft an Sachsens Schulen unterrichten dürfen. Ob sie gekommen ist, um zu bleiben? Nein, das könne sie nicht sagen. »Die Zukunft existiert einfach nicht mehr. Ich habe verstehen müssen, dass meine Pläne nichts mehr bedeuten, weil ich nicht weiß, was morgen ist«, sagt sie und fügt hinzu: »Ich werde weiter den Kindern helfen, sich hier besser zu fühlen, wenn sie Deutsch sprechen können. Ich versuche, etwas Gutes in diesem Leben zu machen.«

Die aktuelle KLASSE gibt es hier zum Download.

* Angeschlossen an die 49. Grundschule und die 116. Oberschule in Dresden war die Schule eine Übergangs- und Notlösung für aus der Ukraine geflüchtete Kinder und Jugendliche. Im neuen Schuljahr lernen sie an Regelschulen und erhalten weiterhin DaZ-Unterricht. Yuliia Didenko bleibt an der 116. Oberschule.

 

Text: Antje Tiefenthal

Fotos: Matthias Rietschel

Lynn Winkler, Redakteurin für Social Media in der Pressestelle des Sächsischen Staatsministeriums für Kultus

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