„Skandalisierung und Drama haben sehr stark zugenommen“

„Skandalisierung und Drama haben sehr stark zugenommen“

Kommunikationswissenschaftler Lutz Hagen über die Verantwortung von Medienmachern und die Bedeutung von nachrichtenkompetenter Schulbildung.

Herr Hagen, Sie konnten in einer wissenschaftlichen Studie nachweisen, dass einflussreiche Massenmedien wie die Bild Zeitung oder die Tagesschau sehr stark bestimmen, was wir über die Wirtschaft denken und nicht so sehr, wie sich die Wirtschaft real entwickelt. Ängstigt Sie die Macht der Medien?

Nein, Angst wäre zu viel gesagt. Aber es ist wichtig, dass man sich darüber im Klaren ist, dass die Medien eine hohe und in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine stark gestiegene Macht in der Gesellschaft haben. Vor allem Journalisten und Medienmacher müssen sich dieser Verantwortung bewusst sein. Medien beeinflussen in unseren Köpfen die Vorstellung über die Realität. Medien sind aber auch dazu da, dass sie über etwas berichten, das wir selbst nicht ohne Weiteres beobachten können. Das ist eine unglaublich wichtige Funktion. Medien dürfen sich dann aber auch nicht wundern, dass sie kritisch beobachtet werden. Mit der gestiegenen Macht der Medien im Zuge von Digitalisierung und Mediatisierung steigt in vielen Teilen der Gesellschaft die Reaktanz. Es ist eine ganz normale menschliche Eigenschaft, dass man kritisch gegenüber allen Beeinflussungsversuchen ist. Je einflussreicher die Medien als Akteure werden, desto kritischer werden sie gesehen.

Sehen sie einen Widerspruch zwischen der medial vermittelten Realität und der tatsächlichen?

Was ist die tatsächliche Wirklichkeit? Für Menschen ist Wirklichkeit immer durch Wahrnehmung vermittelt. Wahrnehmung ist aber immer selektiv. Wir können niemals alles erfassen, was sich in der Realität abspielt. Wir müssen immer auswählen. In welchen Bewertungsrahmen wir Wirklichkeit wahrnehmen, das ist individuell sehr unterschiedlich. Ähnlich ist es bei den Medien. Leider ist ein direkter Vergleich zwischen der Darstellung der Realität in den Medien und der Realität nur in Teilen möglich. Sicherlich kann man vergleichen ob jemand etwas gesagt hat, ob eine bestimmte Behauptung in den Medien stimmt. Es ist überaus wichtig, dass die Medien in dieser Hinsicht korrekt arbeiten. Wir brauchen Qualitätskriterien, Regeln an denen sich Medien orientieren, die dazu dienen, dass Realität so dargestellt wird, wie sie ein unparteiischer Beobachter wahrnehmen würde.

Daran halten sich die Medien nicht immer. Und um auf den Kern der Frage zurückzukommen: Natürlich gibt es immer wieder Abweichungen und es gibt natürlich Entwicklungen, die dazu beitragen, dass es für die Medien schwieriger wird, eine qualitativ hochwertige Berichterstattung zu leisten. Dazu zählt vor allen Dingen im Printmedienbereich eine massive finanzielle Krise. Die Zahl der Leser hat sich in den letzten 25 Jahren fast halbiert, Einnahmen sind noch stärker weggebrochen. Ein weiteres Problem besteht für Journalismus bei allen Medien in dem ständig gewachsenen Druck zur Beschleunigung der Berichterstattung.

Hängt der Zulauf, den Populisten in Deutschland und Europa erfahren, auch damit zusammen, dass die medial vermittelten Wirklichkeiten zu schlicht sind, es zu wenig Hintergrund und Analyse in der Berichterstattung gibt?

Das würde ich bejahen. Medien müssen Aufmerksamkeit generieren. Insbesondere für werbetreibende Medien ist das die Währung. Aber generell ist in der Informationsüberflussgesellschaft Aufmerksamkeit zunehmend ein knappes Gut. Was auch in dieser Situation stets Aufmerksamkeit bringt, das sind Nachrichtfaktoren wie Konflikt, Dramatisierung, Negativismus. Studien belegen, dass das sehr stark zugenommen hat. Medienmärkte und die Aufmerksamkeit in der Gesellschaft sind immer härter umkämpft. Und wir alle sind evolutionär so angelegt, dass wir auf gewisse Reize automatisch reagieren. Das was gut läuft, was in Ordnung ist, da müssen wir nicht so sehr unsere Aufmerksamkeit hinwenden. Das was schlecht läuft, da wo Krisen sind, dort schauen wir evolutionsbedingt hin und das benutzen natürlich die Medien. Zunehmender Negativismus in den Medien kann natürlich dafür verantwortlich gemacht werden, dass wir eine starke Polarisierung in vielen westlichen Gesellschaften haben.

Welche Rolle spielen dabei digitale Medien?

Digitale Medien spielen in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren eine ganz erhebliche Rolle. Die beschriebenen Entwicklungen gehen nicht nur auf den Journalismus zurück. Im Gegenteil. Ein Teil der Polarisierung kommt auch daher, dass neben den Massenmedien eine zweite Öffentlichkeit entstanden ist. Über die digitalen Medien bekommen die Nutzer sehr ungefiltert vor allen Dingen Meinungen und noch weniger Fakten als in den journalistischen Massenmedien. In den digitalen Medien gelten dieselben Nachrichtenfaktoren wie in den herkömmlichen Medien: Überraschung, Negativismus, Prominenz sollen dazu verlocken, irgendwo drauf zu klicken. Es geht weniger darum, was wahr ist, sondern immer wieder darum, was Aufmerksamkeit generiert. Das ist ein Phänomen, das wir nicht nur im Journalismus verstärkt beobachten, sondern was auch ein Urprinzip der sozialen Medien ist. Die Trends in den digitalen Medien wirken wiederum auch auf die journalistischen.

Wie reagieren Mediennutzer darauf?

Man wünscht sich häufiger, dass faktenorientierter und ruhiger berichtet und mehr Hintergrund ausgeleuchtet wird. Wir haben all diese Medien in Deutschland noch, die das tun. Und natürlich findet man Websites und Profile in sozialen Medien, wo das geschieht. Aber im Großen und Ganzen muss man doch feststellen: Aufregung, Skandalisierung und Drama haben sehr stark zugenommen.

Mit welchen Folgen?

Zum Beispiel habe ich für eine sächsische Zeitung untersucht, wie hoch die Leser der Zeitung die Ausländerkriminalität und die Kriminalität von Flüchtlingen in Sachsen einschätzen. Ergebnis: Bei vielen Delikten wird das um mehr als das zehnfache dessen überschätzt, was die Kriminalitätsstatistik des Innenministeriums ausweist. Solche Phänomene gibt es oft. Häufig belegen Statistiken eine positive Entwicklung. Aber die Bürger sehen das eben nicht so.

Ist das nicht eine demokratiegefährdende Entwicklung?

Das ist eine sehr schwierig zu beantwortende Frage. Aber wenn man in die USA schaut, muss man die Frage bejahen. Wenn Stimmungen wichtiger sind als demokratische Regeln, wenn die politische Lage irgendwann so zerstritten ist, dass gar kein vernünftiger Diskurs mehr möglich ist, wenn man nicht mehr auf die Argumente der Gegenseite eingeht und inhaltlich argumentiert, sondern wo nur noch der Hass und die persönliche Ablehnung reagiert – das kann am Ende sogar demokratiegefährdend sein.

Haben Sie sich deshalb im Auftrag der Stiftervereinigung Presse mit der medien- und nachrichtenkompetenten Bildung beschäftigt?

Durch die Digitalisierung spielt Medienkompetenz in der Bildungspolitik eine große Rolle. Medienkompetenz wird bisher vor allem als eine technische Kompetenz diskutiert, weil sie wirtschaftspolitisch relevant ist. Dagegen fand das spezielle Unterfeld Nachrichtenkompetenz sowohl in den bildungspolitischen Diskussionen als auch in der Forschung bisher kaum Beachtung. Die Fähigkeit, Nachrichtenmedien und journalistische Inhalte zu verstehen, kritisch zu beurteilen, effektiv zu nutzen und Nachrichten selbst formulieren zu können, ist mindestens ebenso wichtig. Schüler, die mündigen Bürger von morgen, müssen Fake News von richtigen Nachrichten unterscheiden können. Sie müssen die Kompetenz vermittelt bekommen, um die Informationsinfrastruktur unserer Gesellschaft zu beurteilen. Das ist schließlich eine Kompetenz, die das Funktionieren von Demokratie ermöglicht. Die Bereitstellung von Information, ein funktionierender Meinungsmarkt, die Kontrolle der Mächtigen – das sind zentrale Bestandteile dessen, was man als die öffentliche Aufgabe der Medien bezeichnet. Heutzutage kann jeder und jede mit wenig Aufwand in der Öffentlichkeit stehen, wie dies früher nur Journalisten möglich war. Die journalistische Kompetenz der Bürger, die die Mediengesellschaft erfordert, ist jedoch in der öffentlichen Diskussion total unterbelichtet. Deshalb haben wir diese Studie gemacht.

Wie sind sie vorgegangen?

Wir haben auf verschiedenen Ebenen des Bildungswesens, von den Vorgaben der Kultusministerkonferenz angefangen, über die Lehrpläne in den verschiedenen Bundesländern bis zu den Schulbüchern und Studiengängen fürs Lehramt in den einschlägigen Fächern geschaut, welche Rolle spielt Nachrichtenkompetenz, welchen Umfang hat sie, welche Aspekte der Nachrichtenkompetenz werden dort erläutert? Am Ende haben wir auch in Sachsen Studierende in Lehramtsstudiengängen zu ihrer Nachrichtenkompetenz gefragt, wie sie die Vermittlung von Nachrichtenkompetenz im Studium einschätzen. Wir sind aber nicht an Schulen gegangen, um zu sehen, was im Unterricht passiert.

Sie haben über 200 Lehrpläne untersucht. Der Anteil der Lehrpläne die Bezug zu journalistischen Inhalten nahmen betrug deutschlandweit durchschnittlich 43 Prozent. Und in Sachsen?

Waren es 45 Prozent. Für alle Bundesländer muss man feststellen: Medienkompetenz spielt in 4 von 5 Lehrplänen eine Rolle, aber speziell Nachrichtenkompetenz oder journalistische Kompetenz nur in 2 von 5. In der Lehramtsausbildung spielt Nachrichtenkompetenz gar keine Rolle. Auch der Medienbezug ist deutlich ausbaufähig. Er bezieht sich im Wesentlichen auf die alten Medien.

Welche Lehrpläne haben Sie untersucht?

Deutsch, Gemeinschaftskunde, Ethik, sowie fächerübergreifende Lehrpläne zu Medien- und Demokratieerziehung von den Klassenstufen 5 bis 10 in den Schularten Gymnasium und Realschulen. Lehrplaninhalte zur Nachrichtenkompetenz nehmen von den unteren Klassenstufen mit 33 Prozent bis zur 9. oder 10. Klassenstufe auf 50 Prozent zu. Es wird vor allen Dingen in Deutsch behandelt. Da geht es dann vor allem um die Kenntnis von Textsorten. Was allerdings viel zu kurz kommt, ist das Systematische. Wie funktioniert Journalismus, welche Aufgaben haben die Medien? Was wir feststellen können ist, dass die neuen Medien sehr selten vorkommen. Wenn man sich alle Bezüge zur Nachrichtenkompetenz anschaut, dann geht es in 60 Prozent der Fälle meist um Zeitungen, 20 Prozent um Fernsehen, 17 Prozent Internet, und nur in drei Prozent der Fälle um soziale Medien. Das hinkt der realen Entwicklung ganz gewaltig hinterher.

Das Fach Informatik haben Sie nicht untersucht?

Das haben wir nicht in den Fokus genommen, weil wir davon ausgegangen sind, dass dort eben Medienkompetenz vor allem im Hinblick auf Programmierung und Technik untersucht wird und nicht so sehr inhaltlich-journalistisch, was uns interessiert hat.

Sie fordern ein zusätzliches Unterrichtsfach Medienpublizistik, also Lehre von der öffentlichen Kommunikation. Wenn die Kultusverwaltung allen Forderungen nach zusätzlichen Fächern nachkommen würde, müssten Schüler mehr als 80 Wochenstunden leisten. Niemand wagt, zu sagen, was stattdessen gestrichen werden sollte? Seien sie mutig und sagen sie uns welches Fach wegfallen kann.

(Lacht) Ich denke, dass man dafür nicht unbedingt ein Fach streichen müsste. Aber es ist klar, dass es eine ganz schwierige Sache ist. Lassen Sie mich mal so antworten. Es ist sehr unbefriedigend, wenn die sozialen Medien in den Klassenverbänden und in der Schule außerhalb des Unterrichts eine wahnsinnig wichtige Rolle einnehmen, aber im Unterricht selbst nicht. Die Schüler haben oft einen Klassenchat, sie tauschen dort Hausaufgaben aus und unterhalten sich darüber. Sie wenden spätestens ab der Sekundarstufe I für nichts anderes so viel Zeit auf, wie für Mediennutzung. Erstens absorbiert das die Kinder und hebelt die traditionelle Rolle von Eltern und Lehrerinnen und Lehrern aus. Zweitens werden dort ganz neue Wahrnehmungsgewohnheiten kultiviert. Drittens kommt es schnell zu Problemen, wie Cybermobbing, Verletzungen des Datenschutzes und von Persönlichkeitsrechten. Verstehen Sie mich nicht falsch: Diese Medien gehören inzwischen dazu und erleichtern Vieles, Schüler sollen nicht auf sie verzichten. Aber es kann nicht sein, dass das im Alltag der Schüler eine so große Rolle spielt und dann den Schülern überlassen bleibt, wie man mit Problemen umgeht und wie man diese Medien produktiv einsetzt. Das gehört in den Schulunterricht. Zum Teil überschneidet sich das ja auch mit der politischen Bildung, wenn man über die öffentliche Aufgabe von Massenmedien spricht.

Medien haben einen Informations- und Bildungsauftrag. Landen auf den Schreibtischen der Lehrer zunehmend Aufgaben, weil Medien dem Auftrag nicht mehr gerecht werden?

Nein, das würde ich so nicht sagen. Ich würde das umdrehen. Eltern und Schule haben es schwer, gegen die soziale Wirkung und die Mediennutzung ihrer Kinder anzukommen. Das übt eine unheimliche Sogwirkung aus. Schon ab der 5. Klasse orientieren sich Schülerinnen und Schüler in den sozialen Medien vor allem an sogenannten Peers, Gleichaltrige oder etwas Ältere, die als Vorbilder und Rollenmodelle dienen. Die Eltern verlieren ihre Gatekeeperfunktion, wie auch der Journalismus seine Gatekeeperfunktion in vielem schon verloren hat.

Erklären Sie bitte Gatekeeper?

Gatekeeper ist jemand, der den Informationsinput in ein soziales System steuert. Was Erziehung, Information über die Welt angeht, das war früher sehr viel stärker durch Schule und Eltern kontrolliert. Inzwischen machen es die Kinder sehr viel früher mit Hilfe der sozialen Medien selbst und darauf braucht man Antworten. Das kann die Schule sicherlich nicht allein lösen, aber es kann keine Lösung sein, dass das in der Schule kaum stattfindet.

Nochmal: Ob ein eigenes Unterrichtsfach geschaffen wird oder man in den Fächern genügend Anteile zur Nachrichtenkompetenz in Curriculum vorsieht, ist letztendlich egal. Die Frage ist vielleicht auch, ob unsere Fächereinteilung so noch stimmt. Darüber muss man mal reden. Es wäre sicher zielführend, wenn man quer zu den Fächern, über die wir gesprochen haben, Module, Lehrinhalte schafft, die miteinander verzahnt werden mit Medienkunde, Nachrichtenkompetenz und politischer Bildung.

Das Interview mit Professor Dr. Lutz Hagen erscheint gekürzt in der nächsten Ausgabe der KLASSE.

Dirk Reelfs, Pressesprecher im Sächsischen Staatsministerium für Kultus

2 Kommentare

  1. Kognitiver Geizhals 6 Jahren vor

    „Medien müssen Aufmerksamkeit generieren. Insbesondere für werbetreibende Medien ist dass die Währung.“
    -> Den Rechtschreibfehler findet ihr bestimmt selbst.