»Gemeinsame Aktivitäten mit Kindern, wie aus Büchern vorlesen, Rätsel lösen oder Hilfe bei Hausaufgaben leisten, sind nur schwer möglich«

»Gemeinsame Aktivitäten mit Kindern, wie aus Büchern vorlesen, Rätsel lösen oder Hilfe bei Hausaufgaben leisten, sind nur schwer möglich«

Wie meistern Menschen ihren Alltag, denen das Lesen und Schreiben schwerfällt? Welche Unterstützung gibt es für sie in Sachsen? Zum heutigen Weltalphabetisierungstag haben wir mit Lisa Edler, Projektleiterin beim SVV für die Koordinierungsstelle Alphabetisierung und Grundbildung in Sachsen ALFAplus, gesprochen.

Die Studie LEO 2018 – »Leben mit geringer Literalität« (Universität Hamburg) weist aus, dass mehr als die Hälfte der Personen mit geringer Literalität als Erstsprache Deutsch haben. Etwa 60 Prozent sind erwerbstätig und mehr als ein Drittel lebt mit minderjährigen Kindern zusammen. Wie gelingt ihnen das?

Im Alltag stehen diese Menschen vor großen Herausforderungen. Die Studie hat aufgezeigt, dass gering literalisierte Menschen sehr viele Strategien entwickelt haben, um ihren Lebensalltag zu bewältigen. Damit kommen sie häufig ganz gut zurecht. Aber es bestehen deutliche Benachteiligungsrisiken und Abhängigkeiten von privaten oder professionellen Hilfsstrukturen.

Welche Benachteiligungen sind das?

Ohne Hilfe können sie sich z. B. Behördenpost oder Beipackzettel oft nicht erschließen, Formulare nicht ausfüllen und E-Mails nicht schreiben. In manchen Fällen werden Behördenbriefe gar nicht geöffnet. Auch wenn der Familienalltag mit gut eingeprägten Routinen und der Hilfe anderer zumeist bewältigt wird, sind gemeinsame Aktivitäten mit Kindern, wie aus Büchern vorlesen, Rätsel lösen oder Hilfe bei Hausaufgaben leisten, nur schwer möglich. Das kann dazu führen, dass zu wenig Sprachgefühl und Interesse für die Schriftsprache geweckt und Probleme mit dem Lesen und Schreiben »weitergegeben« werden.

Nutzen gering Literalisierte die digitalen Möglichkeiten?

Die LEO-Studie hat gezeigt, dass Personen, denen Lesen und Schreiben schwerfallen, wie alle anderen auch Smartphones und soziale Medien zur Kommunikation aktiv nutzen. Erklärvideos oder barrierefreie Informationsseiten mit Vorlesefunktion helfen sehr. Viel seltener nutzen gering literalisierte Menschen Computer und das Internet, um z. B. E-Mails zu schreiben, eine Fahrkarte zu kaufen oder im Internet nach Informationen zu suchen. Das hat Auswirkungen auf die beruflichen Chancen. Die gravierendsten Nachteile bestehen aber für die freie Urteils- und Meinungsbildung der Betroffenen. Wenn das Lesen, Schreiben oder Rechnen sehr schwerfallen, schränkt dies das kritische Hinterfragen und die »Tiefenprüfung«, z. B. durch Nachlesen im Kleingedruckten, nochmaliges Recherchieren oder Vergleiche von Angeboten, erheblich ein. Auch das Prüfen von Nachrichten auf ihren Wahrheitsgehalt ist dadurch erschwert.

Dennoch mussten die Akteure wie auch das SMK selbst feststellen, dass die Kurse und Lerngelegenheiten von zu wenigen Menschen genutzt werden.

Solange die Personen halbwegs klarkommen, wird das Problem tabuisiert – vom Umfeld und von den Betroffenen selbst. Viele der Betroffenen sind erwerbstätig, manche haben z. B. Arbeitsabläufe auswendig gelernt, um nicht aufzufallen. Von den bestehenden Angeboten, wie den Kursen für Lesen und Schreiben, Rechnen oder Computernutzung, wissen die Betroffenen und ihre Vertrauenspersonen oder Arbeitgeber oft nichts. Daher ist es wichtig, öffentlichkeitswirksam für das Thema zu sensibilisieren. Ein weiterer Grund ist, dass Menschen mit schlechten Lernerfahrungen der Mut und die Motivation, z.B. ein starkes Ziel, fehlen, sich als Erwachsener einem Lernprozess zu stellen und neben Arbeit und Familienalltag noch regelmäßig einen Kurs zu besuchen. Sie brauchen dafür ermutigende Unterstützung von Vertrauenspersonen und professionelle Lernberatung.

Welchen Beitrag kann die Koordinierungsstelle leisten?

ALFAplus wird landesweit mehr Transparenz schaffen und möglichst viele Menschen für das Thema sensibilisieren. Dafür nutzen wir auch große öffentliche Veranstaltungen, wie den Tag der Sachsen in Aue-Bad Schlema oder den Weltalphabetisierungstag am 8. September. Gemeinsam mit den regionalen Akteuren wird das unmittelbar »mitwissende Umfeld« der Personen mit Lese- und Schreibschwierigkeiten, z. B. Angehörige, Kolleginnen und Kollegen oder der Freundes- und Bekanntenkreis, vor Ort informiert und beraten. Informationen gibt es auch regelmäßig direkt von uns über die sozialen Medien (alfaplussachsen) und auf unserer Internetseite www.alfa-sachsen.de. Außerdem trägt ALFAplus zur Qualitätsentwicklung bei, indem beispielsweise die Akteure der Alphabetisierungs- und Grundbildungsarbeit in Sachsen miteinander vernetzt und deren Angebote transparent gemacht werden.

Kommen auch Menschen in der Öffentlichkeit zu Wort, die das Thema selbst betrifft?

Selbstverständlich. Wir freuen uns sehr, dass uns Lernende in der Öffentlichkeitsarbeit unterstützen. Beeindruckend sind oft ihre Lebensgeschichten und die Herausforderungen, denen sie sich gestellt haben. Insbesondere der Mut, den sie aufgebracht haben, um das Lesen und Schreiben nun erstmals oder erneut in den Kursen zu lernen, ist bewundernswert. Das kann anderen Mut machen. Diese Lernenden gilt es auch zu stärken und zu gewinnen, an die Öffentlichkeit zu treten.

Gibt es weitere sächsische Akteure, die sich für die Betroffenen einsetzen?

Ja, erfreulich viele, denn es braucht sehr verschiedene Akteure im Feld der Alphabetisierung und Grundbildung. Zum einen sind es die Bildungseinrichtungen, welche teilweise seit vielen Jahren Kurse und Projekte zur Grundbildung umsetzen und für Lernende zum festen Ansprechpartner geworden sind. Viele nutzen die ESF-Förderrichtlinie des SMK, zum Beispiel CJD Sachsen (Christliches Jugenddorfwerk Deutschland), IB (Internationaler Bund für Bildung und soziale Dienste) oder die DIU (Dresden International University), um Alphabetisierungskurse anzubieten. Die 15 Volkshochschulen in Sachsen sind auch immer eine gute Anlaufstelle, da sie individuell beraten und sehr vielfältige Lernangebote auch im Grundbildungsbereich haben. Ein Bildungsträger, der Erwerbstätigen Lernangebote direkt am Arbeitsplatz ermöglicht, ist Arbeit und Leben Sachsen e.V. Wichtige Akteure sind auch die Mehrgenerationenhäuser, Jobcenter, Arbeitsagenturen und sozialräumliche Einrichtungen wie Beratungsstellen oder Familienzentren, da diese oft mit Menschen im engen Kontakt stehen, die sich Beratung und Unterstützung wünschen. Ich bin sehr dankbar für die Menschen vor Ort, insbesondere den ehrenamtlich Tätigen, die sich für die Betroffenen einsetzen.

Was möchten Sie als nächstes erreichen?

In Kürze soll die Internetseite der Koordinierungsstelle ALFAplus ausgebaut sein. Ziel ist eine zentrale Informationsplattform für interessierte Bürgerinnen und Bürger, für beratende Fachkräfte und Institutionen sowie für die Lernenden. Sie informiert zu den Aktivitäten, Lernangeboten und Kontaktmöglichkeiten in Sachsen.

Dafür benötigen wir stets aktuelle Informationen. Daher ist ein weiteres Ziel, die landesweite Zusammenarbeit der Akteure verbindlich zu planen. Und schließlich bereiten wir weitere Aktivitäten zur Öffentlichkeitsarbeit vor. Zum »Tag der Sachsen« Anfang September war die Koordinierungsstelle in Aue-Bad Schlema auf der Innovations- und Bildungsmeile. Zudem sind Aktivitäten zum Weltalphabetisierungstag geplant. Am 8. November veranstalten wir in Chemnitz unsere erste Fachtagung für die Akteure der Alphabetisierung und Grundbildung, bei der es insbesondere um finanzielle Grundbildung geht.

Was genau ist der Weltalphabetisierungstag?

Der Weltalphabetisierungstag wurde Mitte der 1960er Jahre von der UNESCO ins Leben gerufen. Er soll ins Bewusstsein rufen, dass weltweit für rund 770 Millionen Erwachsene das Lesen und Schreiben eine Herausforderung ist. Auch in diesem Jahr finden am 8. September zahlreiche Veranstaltungen statt.

Was hat ALFAplus anlässlich dieses Tages geplant?

ALFAplus veranstaltet an diesem Tag eine Gesprächsrunde in Dresden, an der der Sächsische Staatsminister für Kultus, Christian Piwarz, und Lernbotschafter Enrico Bakan teilnehmen. Darüber hinaus werden mit dem vhs-Lerntreff Behring24 und dem Projekt mittendrin – mit Kopf und Ball zwei erfolgreiche Konzepte der Alphabetisierungs- und Grundbildungsarbeit in Sachsen vorgestellt. Sie sind ein Vorbild für mögliche neue Projekte und Strategien, um die Lese- und Schreibfähigkeiten der sächsischen Bevölkerung zu verbessern. Enrico Bakán hat selbst im Erwachsenenalter richtig lesen und schreiben gelernt und möchte mit seiner Geschichte anderen Menschen Mut machen.

Auch andere Akteure in Sachsen haben an diesem Tag Veranstaltungen geplant. Die Alphabetisierungskurse vom CJD Sachsen aus Annaberg-Buchholz, Chemnitz und Aue-Bad Schlema besuchen beispielsweise gemeinsam das Erzgebirgsmuseum. Die Lerngruppen möchten dabei mit den Besucherinnen und Besuchern des Museums ins Gespräch kommen und für das Thema geringe Literalität sensibilisieren.

Dr. Susann Meerheim, stv. Pressesprecherin des Sächsischen Staatsministeriums für Kultus

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