»Fluchterfahrungen sind leider nicht auf die Vergangenheit begrenzt, Menschen leiden auch heute unter Krieg und Hass und deren Folgen«

»Fluchterfahrungen sind leider nicht auf die Vergangenheit begrenzt, Menschen leiden auch heute unter Krieg und Hass und deren Folgen«

Was macht eigentlich der Beauftragte für Vertriebene und Spätaussiedler im Freistaat Sachsen? Wir haben mit Dr. Jens Baumann über seine Aufgaben und die Ausstellung »Wolfskinder in Sachsen. Eine Spurensuche« gesprochen.

Sie sind der Beauftragte für Vertriebene und Spätaussiedler im Freistaat Sachsen. Was sind Ihre Aufgaben als Beauftragter und mit wem arbeiten Sie dabei zusammen?

Meine Aufgabe ist es, Ansprechpartner für die Vertriebenen und Spätaussiedler zu sein, ihren Interessen Gehör zu verschaffen, für sie Türen zu öffnen und auf ihre Lebensleistungen für unsere Gesellschaft aufmerksam zu machen. Dies geschieht über Projekte, Publikationen, Ausstellungen, Vorträge und natürlich viele Gespräche.

Im Freistaat gab es 1995 noch über 350.000 Vertriebene, jetzt sind es etwa noch fünf Prozent der Bevölkerung. Damit haben auch viele Schüler und Schülerinnen Großeltern oder Urgroßeltern, die dieses Schicksal erleiden mussten. Hinzu kommen 100.000 bis 150.000 Spätaussiedler, die hier leben und Sachsen mitgestalten.

Zugleich arbeite ich mit Vereinen, Museen, Stiftungen, Kommunen usw. zusammen, die sich mit der Geschichte und dem kulturellen Erbe der ehemaligen Vertreibungs- und Aussiedlungsgebiete befassen. Hinzu kommen grenzüberschreitende Veranstaltungen insbesondere mit Tschechien und Polen, hier vor allem den Regionen Nieder- und Oberschlesien. Die direkte Kontaktpflege zu den deutschen Minderheiten im Ausland gehört dazu.

Für all diese Gruppen stehen mir jährlich etwa 500.000 Euro für Projektförderungen zur Verfügung. Zu meinen Aufgabenfeldern gehören zudem Fragen der Kriegsgräber und auch die Förderung der Zweisprachigkeit im sorbischen Siedlungsgebiet. Überhaupt liegt mir die Vertretung vom Minderheitenbelangen besonders am Herzen; Minderheitenförderung beschränkt sich für mich nicht nur auf kulturelle und sprachliche Aspekte – gute Minderheitenpolitik ist Regionalpolitik.

Spätestens seit 2015 sind die Themen Flucht und Vertreibung in der öffentlichen Aufmerksamkeit wieder stärker angekommen. Wie spielen die aktuellen Fluchtbewegungen in Ihrer Funktion eine Rolle?

Fluchterfahrungen sind leider nicht auf die Vergangenheit begrenzt, Menschen leiden auch heute unter Krieg und Hass und deren Folgen. So gilt meine besondere Aufmerksamkeit derzeit den Flüchtlingen aus der Ukraine und der weiteren Aufnahme von Spätaussiedlern aus Russland und anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Zugleich heißt das, für hier schon länger lebende Spätaussiedler einzutreten, weil sie in ihren Herkunftsländern als Deutsche abgestempelt waren und hier manchen als Russen gelten, die es schwer haben, gerade mit Blick auf den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, gesellschaftlich voll akzeptiert und integriert zu werden. Zudem versuche ich, Fluchterfahrungen früher und heute für Außenstehende in Beziehung zu setzen und daraus Möglichkeiten gelingender Integration abzuleiten. Es ist mir Anliegen, Aufgeschlossenheit für unsere Kultur mit der Bewahrung eigener kultureller Traditionen zu vereinbaren und dies nach außen sichtbar werden zu lassen

Seit 2021 kann man bei Ihnen die Ausstellung »Wolfskinder in Sachsen. Eine Spurensuche« ausleihen. Viele sächsischen Schulen nutzten diese bereits, um für das Leid und die Schutzlosigkeit von Kindern in gegenwärtigen Konfliktregionen zu sensibilisieren. Was ist das genau für eine Ausstellung? Wie kommen die Schulen an diese Ausstellung?

Foto: Dr. Jens Baumann

Die Wolfskinderausstellung erzählt über das Ende des 2. Weltkrieges in Ostpreußen aus Sicht der elternlosen Kinder, ihr Umherirren zwischen den dann sowjetischen Gebieten und Litauen und ihre spätere Ausreise sowie ihr Heranwachsen in Sachsen. Tausende Kinder kamen hier an, mussten in Heimen leben oder wurden Pflegefamilien zugeordnet. Nicht zuletzt gibt die Ausstellung einen Ausblick auf die Suche nach vermissten Kindern heute. Die Ausstellung kann über mich angefordert werden, sie ist kostenlos. Vielfach bot es sich an, eine gemeinsame Eröffnung und Diskussion zu organisieren, woraus sich interessante Gespräche eben zu Flucht, Vertreibung, Integration, Heimat wie auch Minderheitenfragen entwickelten.

Die Ausstellung kann auf meinem Portal unter www.bvs.sachsen.de eingesehen werden. Dort sind auch weitere Ausstellungen (wie zur Minderheitenproblematik oder Integration durch Leistung) aufgeführt, aber auch Publikationen, Termine u. ä. Zu jeder Ausstellung gibt es einen kleinen Katalog, meist auch mit einem Fragebogen, der die Einbeziehung in den Unterricht für den Lehrer erleichtern soll. Alle Ausstellungen wurden mit Lehrkräften abgestimmt, so dass sie sich für den Unterricht auch wirklich eignen. Außerdem bin ich für neue Ideen offen, gern unterstütze ich Projekte von Schulen.

Bildung ist oftmals der Schlüssel für Verständnis und Verständigung. Wo sehen Sie hier Anknüpfungsmöglichkeiten in Ihrer Arbeit? Welche Angebote empfehlen Sie?

Bildung hat eine ganz zentrale Rolle. Übrigens auch für damalige und heutige Flüchtlinge, denn nur wer über Bildung und Sprachkenntnisse verfügt, hat gute Chancen, im Unbekannten rasch Fuß zu fassen. Eine gute Bildung öffnet den Blick für die Welt und man sieht, dass das jeweilige Anderssein sich so zu einem Ganzen fügt, anderes heißt nicht fremd. Deshalb versuche ich, vor allem Projekte mit einem Bildungsinhalt zu fördern, komme gern zu Vorträgen oder Diskussionen.

In Kreisau in der polnischen Woiwodschaft Niederschlesien fördere ich regelmäßig ein Begabtenseminar mit Schülerinnen und Schülernn zur Rolle des Wissenschaftlers in Diktaturen. Kreisau ist ein geeigneter Ort, Fragen von Widerstand aus deutscher und polnischer Sicht zu diskutieren. Im Herbst 2023 wird der nächste trinationale Schülerwettbewerb (sächsische, polnische und tschechische Schulen) zum großen Thema Beheimatung angeboten. Wir haben das immer so organisiert, dass jede teilnehmende Klasse auch einen der Geldpreise gewinnt. Zudem wird – wie bisher auch – zum Abschluss jeder teilnehmenden Schülerin bzw. Schüler ein Kalender mit allen Einreichungen übergeben, sozusagen als Erinnerung und Wiederfinden fürs Mitmachen.

Ein besonderes Angebot entsteht mit sächsischen und polnischen Kuratoren zur Zeit in Knappenrode bei Hoyerswerda mit dem Aufbau des außerschulischen Bildungs- und Begegnungszentrums Transferraum Heimat. Hier werden die Herkunftsgebiete der Vertriebenen angesprochen, dann die Zeit der Weimarer Republik und die Verbrechen des Nationalsozialismus. Ein Themenbereich beschäftigt sich mit Flucht und Vertreibung, die Besucherin und der Besucher kann sich in einem durch die Hauswand eingebauten Eisenbahnwaggon mittels eines VR-Filmes in einem Vertriebenentransport wiederfinden. Wenn er den Waggon verlässt, hatte er zwei unbeschriftete Türen vor sich – je nachdem, welche er wählt, gelangt er in die westliche oder die östliche Besatzungszone. Zwischen beiden entsteht die Mauer, die unsere Staaten trennte und man erfährt die unterschiedliche Aufnahme und Integration von Flüchtlingen und Vertriebenen in Ost und West, sozusagen Lastenausgleich und Brauchtumspflege versus Umsiedlerpolitik. Bestimmte Bilder, wie das des Soldaten, der über die Grenze flieht oder der Kniefall von Willy Brandt, rufen prägende Zeitereignisse ins Gedächtnis. Später fällt die Mauer durch die Kraft der Menschen und vier Themeninseln machen deutlich, was Flüchtlingen früher und heute wichtig ist. Wir haben dazu ausgewählt: Haus (Eigentum und Heimat), ein überdimensionales stehendes Buch (Bildung und Sprache), Amphitheater (Annahme und Einbringen von Tradition und Kultur) sowie ein hängendes gekentertes Schlauchboot (Wert von Demokratie und Menschenrechten).

Sonderausstellungsräume sowie ein Klassenraum mit moderner Technik runden das Ensemble ab, so dass der Unterricht auch komplett vor Ort durchgeführt werden kann. Die Ausstellung ist zweisprachig und fokussiert weniger auf lange Texte als vielmehr auf die Ebenen Texte – Ausstellungsstücke – Zeitzeugeninterviews. VR- Angebote im Waggon wie auch zur Aufnahme in den Durchgangslagern sowie Filme stehen zur Verfügung. Nicht zuletzt sollen die Besucherinnen und Besucher insbesondere an den Themeninseln selbst aktiv werden, ihre Gedanken, was Heimat ist, was unsere Demokratie ausmacht usw. darstellen können. Unmittelbar neben dem Transferraum Heimat befindet sich noch die Energiefabrik Knappenrode, ebenso interessant für die schulische Bildung. Insgesamt gesehen bietet sich der Standort an für fächerübergreifenden Projektunterricht zum Beispiel der Fächer Geschichte, GRW, Geografie, Deutsch, Kunst.

Und bei entsprechender Verfügbarkeit und Anmeldung wird es auch möglich sein, auf dem nahegelegenen Geierswalder See mit dem letzten Beiboot der Wilhelm Gustloff zu fahren. Ich gehe davon aus, dass Mitte/Ende 2024 das Begegnungszentrum mit seinen übrigens reichhaltigen Sammlungen komplett ausgebaut und damit besuchbar ist. Fahrten dorthin werden von mir gefördert.

 

Text: Ralf Seifert

Lynn Winkler, Redakteurin für Social Media in der Pressestelle des Sächsischen Staatsministeriums für Kultus

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