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SMK-Blog

Wenn Schule funktioniert, funktioniert die Gesellschaft? Ein Irrglaube

Wenn Schule funktioniert, funktioniert die Gesellschaft? Ein Irrglaube

Die Gesellschaft überträgt immer mehr Bedürfnisse und Erwartungen auf Lehrkräfte und Schulverantwortliche. Können sie dem gerecht werden? Wir zeigen, wie sie sich engagieren – und wo ihre Grenzen sind.

»Wir sehen gesellschaftliche Herausforderungen wie Zuwanderung und soziale Ungleichheit und erwarten, dass Schule das alles irgendwie lösen muss«, sagt Prof. Dr. Kai Maaz, geschäftsführender Direktor des DIPF, Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation. »Dabei übersehen wir, dass die meisten Ungleichheiten beim Kompetenzerwerb gar nicht in der Schule entstehen, sondern in den ersten sechs Lebensjahren und im außerschulischen Kontext wie Familie und Peers.« Schulen sollen also richten, was sie selbst alleine gar nicht in der Hand haben – und das vor dem Hintergrund einer schwierigen Lehrkräftesituation. Für den Bildungsforscher Maaz steht fest, dass Schulverantwortliche und Lehrpersonal dem nicht gerecht werden können. »Dennoch hat Schule mehr Aufgaben als die Vermittlung von Grundkompetenzen wie Rechnen, Schreiben und Lesen. Wir müssen definieren, was denn eigentlich die Kernaufgaben von Schule sind und was Schule braucht, um diese Kernaufgaben wahrzunehmen.«

Herausforderung erkannt: politische Bildung stärken

Die Kernaufgaben seien unter anderem die Vermittlung von politischer Bildung, Sozialkompetenzen und lebenspraktischen Fähigkeiten, lauten immer wieder Forderungen aus der Gesellschaft. Erstgenannte steht spätestens seit den sächsischen Landtagswahlen im September 2024 im medialen Fokus. Rund 30 Prozent der jungen Wähler zwischen 18 und 24 Jahren setzten ihr Kreuz bei einer rechtspopulistischen und vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem eingestuften Partei. Lehren Schulen zu wenig politische Bildung? Welche Rolle spielen sie überhaupt, wenn es darum geht, das Demokratieverständnis von jungen Menschen zu schärfen? »Eine zentrale«, sagt Kai Maaz. »Aber eben auch nicht die alleinige. Die Frage ist doch, welche politischen Einstellungen, welche politischen Narrative in den Familien, bei den Peers bedient werden und wie Schule das aufbrechen muss und kann.« Ein Blick in die Lehrpläne: 2016 beschloss das sächsische Kabinett einen Maßnahmenkatalog, um das Demokratieverständnis an Sachsens Schulen zu stärken. 2019 hat das Sächsische Staatsministerium für Kultus im Rahmen einer Lehrplanänderung die politische Bildung zum erklärten Bildungs- und Erziehungsziel jeder Schulart gemacht. Das Projekt »Bildungsland Sachsen 2030« spiegelt diesen Anspruch wider. Die Herausforderung ist erkannt – es sind die Lehrkräfte und Schulleitungen, die dafür sorgen, dass aus Anspruch Wirklichkeit wird.

Perspektive ändern – außerhalb des Klassenzimmers

»Die harten Wahrheiten über den DDR-Staatsapparat werden daheim oft verschwiegen«, sagt Björn Fischer. »Deshalb setzen wir uns im Sächsischen Geschichtscamp bewusst mit diesen Themen auseinander.« Fischer ist Fachlehrer für Geschichte und Französisch am Christian-Gottfried-Ehrenberg-Gymnasium in Delitzsch bei Leipzig. Vor drei Jahren übernahm er die Funktion des Landesbeauftragten für den Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten und das Geschichtscamp in Sachsen, weil es ihm ermöglicht, aus der Unterrichtsroutine auszubrechen und Geschichte erlebbar zu machen. Wer beim Geschichtswettbewerb mitmacht, braucht Ausdauer. »Die Teilnehmenden werden über ein halbes Jahr lang von Lehrkräften bei der Projektumsetzung begleitet«, sagt Fischer. Das Geschichtscamp findet jedes Jahr an einem anderen Ort in Sachsen statt. Die Jugendlichen beschäftigen sich in unterschiedlichen Workshops mit der Geschichte der DDR. »Wir legen an authentischen Lernorten die Mechanismen der Diktatur offen und fördern so auch das Demokratieverständnis.« Teilnehmen könnten Jugendliche ab der 9. Klasse, jedes Jahr gebe es mehr Bewerbungen als Plätze. »Mich begeistert immer wieder das Engagement und die Begeisterung, mit denen die Jugendlichen im Camp oft bis spät in die Nacht zusammenarbeiten.« Sie schließen Freundschaften und erleben, dass sie trotz unterschiedlicher Hintergründe gemeinsame Interessen und Werte teilen. Aktivitäten wie diese, außerhalb des Klassenzimmers, sind für Björn Fischer eine wertvolle Ergänzung des Lehrplans. Seiner Meinung nach bietet das Sächsische Kultusministerium viele solcher gut vorbereiteten und durchfinanzierten Angebote, nicht immer würden sie von den Lehrkräften in vollem Umfang genutzt. »Der Druck ist immer da: Ist der Tag im Archiv oder in der Gedenkstätte wichtiger oder die Unterrichtsblöcke in den anderen Klassen, die dann ausfallen und die ich irgendwann nacharbeiten muss.«

Lernen durch Engagement

Die Rahmenbedingungen für Lehrkräfte und Schulen sind nicht einfach. Stichwort Personalmangel. Dennoch ist Stefanie Waibl überzeugt: »Sachsens Bildungssektor ist in Bewegung, und er bewegt sich auch in die richtige Richtung.« Waibl ist Lehrerin für Deutsch und Gemeinschaftskunde am Bertolt-Brecht-Gymnasium in Dresden. Seit rund drei Jahren setzt sie gemeinsam mit einer Kollegin auf das Programm »Lernen durch Engagement« (LdE), auch »Service Learning« genannt. Dabei handelt es sich um eine Lehr- und Lernform, die gesellschaftliches Engagement von Kindern und Jugendlichen mit fachlichem Lernen im Unterricht verbindet und so deren Sozialkompetenzen stärkt. In der Praxis sieht das so aus: Waibl analysiert gemeinsam mit ihren Schülerinnen und Schülern einen realen Bedarf in der Schule oder in der Kommune. Die Schülergruppen entwickeln Lösungen, um den Bedarf zu decken, und setzen diese um. Waibl integriert diese Aktivitäten in ihren Unterricht, um Lerninhalte zu vertiefen. Ein Beispiel: 28 Schülerinnen und Schüler der 8. Klasse erkannten in der Bedarfsanalyse, dass in einem Kindergarten nach der COVID-19-Pandemie Personal fehlte. Sie kontaktierten den Kindergarten, definierten, wie und wann sie vor Ort unterstützen konnten. »Im Rahmen des Deutschunterrichts konnte ich das einbinden, zum Beispiel, indem wir ein Anschreiben verfasst haben.«

Netzwerktagung LDE, ®Tabea Hoernlein

Das Bertolt-Brecht-Gymnasium in Dresden ist eine von rund 60 Bildungseinrichtungen, die am LdE-Qualifizierungsprogramm teilnehmen. Das Programm beinhaltet Fortbildungen für Lehrkräfte und Vernetzungstreffen. Bettina Seiler, Bildungsreferentin der Koordinierungsstelle »Lernen durch Engagement« (KLE) in Sachsen, betont, dass LdE von Lehrkräften die Bereitschaft fordere, die eigene Rolle im Unterricht zu verändern. Weg vom reinen Wissensvermittler hin zum Lernbegleiter. »Ich erlebe die Lehrerinnen und Lehrer, aber auch die meisten Schulleitungen als hoch motiviert. Der Austausch untereinander, den das Netzwerk ermöglicht, ist dabei sicherlich auch ein wichtiger Faktor.« Um Service-Learning dauerhaft an Schulen zu implementieren, braucht es in ihren Augen neben der Begleitung durch die KLE Sachsen einen starken Schulterschluss aller Beteiligten. Kollaboration ist der Schlüssel, sei es im Kollegium, mit Schulen oder mit externen Partnern wie Altersheimen. »Dazu zählen nicht nur Schülerinnen, Schüler und Lehrkräfte, sondern auch die Eltern.« Stefanie Waibl wird sich weiterhin für Service Learning starkmachen. »Es macht den Unterricht lebendiger und lebensnaher.«

Lebenspraktische Fähigkeiten lehren

Lernen fürs Leben heißt auch, ganz alltägliche Dinge besser zu verstehen. Zum Beispiel die Steuererklärung. Die Initiative »Finanzamt macht Schule« erklärt bereits seit 2014 den Steuerzahlern von morgen, wie das Steuersystem funktioniert. Im Unterricht, eine Doppelstunde lang, beantworten zwei Dozenten des Finanzamtes in Absprache mit den Lehrenden die Fragen der Jugendlichen und nähern sich so spielerisch einem eher spröden Thema an. Das Angebot der sächsischen Finanzämter ist für Schulen im Freistaat kostenfrei. »Wir schaffen es, Berührungsängste mit dem Thema Steuern abzubauen«, sagt Helene Oswald, Pressesprecherin des Landesamtes für Steuern und Finanzen. »Das Projekt lebt letztendlich von engagierten Lehrkräften, die den Horizont der Schülerinnen und Schüler um die Praxis erweitern wollen.«

Lernen fürs Leben

Den handfesten Praxisbezug liefert auch das Fabmobil. Der mit Digitaltechnik bestückte Doppeldeckerbus tourt durch Sachsen und fährt gezielt Schulen in ländlichen Regionen an. Das schwarz lackierte Gefährt und seine Chauffeure bringen Kindern und Jugendlichen ab der 4. Klasse Creative Technologies näher: 3D-Druck, Virtual Reality, Robotik, Programmierung. Die Schülerinnen und Schüler erstellen in zwei- oder dreitägigen Workshops virtuelle Welten, löten oder programmieren kleine elektronische Geräte, die dann auch wirklich angewendet werden können. »Zum Beispiel hat eine Schülergruppe einen Pflanzensensor gebaut, der verrät, wann eine Pflanze zu feucht oder zu trocken ist«, erzählt Fabmobil-Koordinatorin Juliane Reményi. Das mobile Labor ist Teil der seit 2021 vom Sächsischen Staatsministerium für Kultus geförderten Initiative »Digitale Schule Sachsen«. Sie umfasst zahlreiche Projekte, die Kinder und Jugendliche abseits der großen Städte für die informatische Bildung interessieren sollen. »Wir sind das einzige Bundesland, das seit 1992 Informatikunterricht verpflichtend im Lehrplan anbietet. Damit sind wir gut aufgestellt«, erklärt Dr. Jens Drummer, Referent im Sächsischen Staatsministerium für Kultus und verantwortlich für die Initiative »Digitale Schule Sachsen«. »Aber das reicht eben nicht. Langfristig möchten wir mit diesen Maßnahmen den Fachkräftemangel in der IT bekämpfen und junge Menschen für eine Ausbildung oder ein Studium für informatiknahe Berufe begeistern.« Flankiert wird die Initiative von einem Schulnetzwerk aus Grundschulen, Förderschulen, Oberschulen sowie Gymnasien im ländlichen Raum. Bildungseinrichtungen und Lehrkräfte können sich auf der Website der Initiative über die verschiedenen Projekte informieren und diese anfordern. Das Fabmobil hat inzwischen eine lange Warteliste. Laut Reményi könnte man seinen Tourplan auf ein Jahr im Voraus füllen. »Wir sind sehr zufrieden mit dem Start des Netzwerkes und der ›Initiative Digitale Schule Sachsen‹«, bestätigt auch Drummer. »Wir arbeiten jetzt konsequent an der Verstetigung.«

Fabmobil, Foto: Fabian Catoni

Diese Aufgabe geht alle an

Das sind nur wenige von vielen Initiativen und Aktivitäten, die dazu beitragen, dass Sachsens Schülerinnen und Schüler im Sinne einer starken Zivilgesellschaft aufwachsen. Sie zeigen, wie vielfältig das Engagement von Schulverantwortlichen und Lehrpersonal ist, um den verschiedenen Kernaufgaben von Schule gerecht zu werden. Sie zeigen aber auch, welches Potenzial sich in der Zusammenarbeit verbirgt. Die Bewältigung gesellschaftlicher Herausforderungen ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Schule spielt dabei eine zentrale Rolle, aber auch Familie, Politik und Wirtschaft sind gefragt, ihren Anteil zu leisten. »Wir haben dieses Narrativ, dass allein wenn Schule funktioniert, die Gesellschaft funktioniert«, bringt Kai Maaz es auf den Punkt. »Das ist ein Irrglaube.«

Schon gewusst?

Der Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten

… findet alle zwei Jahre statt und richtet sich an junge Menschen bis 21 Jahre. Teilnehmen können Klassen, Gruppenverbände oder Einzelpersonen. Sie stellen zu einem festgelegten Schwerpunktthema eigene Fragen an ihr Lebensumfeld und beantworten sie durch Recherchen in Archiven, Zeitzeugeninterviews oder Expertengespräche. Das Thema 2024/25: »Bis hierhin und nicht weiter!? Grenzen in der Geschichte«. Ausgerichtet wird er von der Körber-Stiftung, die 550 Geldpreise auf Landes- und Bundesebene vergibt.

Mehr erfahren: koerber-stiftung.de/projekte/geschichtswettbewerb

Das Sächsische Geschichtscamp

… findet jedes Jahr im September an wechselnden Orten im Freistaat statt. 50 Jugendliche, jeweils 21 aus Sachsen und Baden-Württemberg, und acht Preisträgerinnen und Preisträger des Geschichtswettbewerbes befassen sich fünf Tage lang in Workshops mit der Geschichte der DDR. Die Workshops sind thematisch breit gefächert, von Umweltprotest über Liebe(n) bis hin zur Jugendkultur in der DDR.

Mehr erfahren: geschichtscamp.de

Zahlen

1.300+ Schülerinnen und Schüler abseits der urbanen Zentren Sachsens erreicht das Fabmobil jährlich. (Quelle: Fabmobil)

250+ Veranstaltungen in den Bildungseinrichtungen führten die sächsischen Finanzämter im Schuljahr. 2023/24 durch. (Quelle: Landesamt für Steuern und Finanzen)

340 Schülerinnen und Schüler aus Sachsen nahmen 2022/23 am Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten teil (von bundesweit 5.605).

Text: Regine Marxen


Ein Gedanke zu “Wenn Schule funktioniert, funktioniert die Gesellschaft? Ein Irrglaube

  1. Nun,wenn Schule nicht funktioniert,dann funktioniert auch die Gesellschaft nicht. Das sollten wir vielleicht auch nicht vergessen.

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