Bürgerforum in Dresden: Inklusion als gesellschaftliche Moralfrage

Bürgerforum in Dresden: Inklusion als gesellschaftliche Moralfrage

Die siebte Einladung zur Bürgerwerkstatt zum neuen Schulgesetz lud in die Landeshauptstadt – und in den ersten Nagelneubau: Im Gymnasium Bürgerwiese, topmodern und innen quietschgrün, begrüßte Schulleiter Jens Reichel ein jüngeres Publikum mit mehr Eltern. Dem zu erwartenden Andrang wurde von vornherein Rechnung getragen, sechs (statt bislang vier) Thementische warteten auf insgesamt 106 Diskutanten.

Besonders emotional wurde es beim Thema Inklusion, welches aufgrund der UN-Behindertenrechtskonvention nun im Gesetz eingebaut ist – mit einer grundätzlichen Teilnahmechance für alle Kinder zur Einschulung in die Grundschule. Link zur Bildergalerie
Das war auch Verdienst der erstmals anwesenden Pädagogikstudierenden, die zuerst grundsätzlich nach der Haltung zur Inklusion fragten, ehe man an die Umsetzung gehe. Damit lagen sie auf einer Wellenlänge mit Sachsens Kultusministerin Brunhild Kurth, die sich diese spezielle Form der Dialogforen – als erstmaliges Experiment zwischen die erste und zweite Kabinettsfassung geschalten – eigens gewünscht und dann initiiert hatte. Sie verwies aber auch auf ihre jüngste Erfahrung als Präsidentin der Kultusministerkonferenz: Viele Länder hätten die Inklusion zu rasch auf Kosten des Förderschulsystems eingeführt und ruderten nun zurück. Dazu passend die Einschätzung der beiden Moderatoren in der Schlussrunde: einerseits gab es eine „sehr stille und vorsichtige“, andererseits eine ehrliche Runde, angenehmerweise eine Diskussion „ohne Bandagen“.Buergerdialog-Dresden_Nicole-Herzog_20160225-05

Inklusion als Haltung, Schulsozialarbeit als Problem

Die Dresdner Beteiligung am Thema „Schule und Inklusion“ hätte mit 59 Leuten fast für ein dreizügiges Gymnasium gereicht, wurde aber – wie das ebenfalls gedoppelte Thema „Eigenverantwortung“ (29 Teilnehmer) – gerecht zweigeteilt. Hier hatte Moderator Peter Stawowy mit Werner Glowka den Haushaltsexperten des Kulturministeriums am Tisch – und ein heikles Thema, bei dem die Jugendämter der Kommunen und das Sozialministerium mitspielen müssen: Schulsozialarbeit. Dort wurde die Bezahlung der individuellen Betreuung von Problemschülern über ESF-Mittel als ungeeignet gegeißelt, weil immer wieder Förderwellen und -lücken entstehen, in denen gute Sozialarbeiter in dauerhafte Anstellungen verschwinden. Außerdem könne es nicht sein, dass Schulsozialarbeit nur in Brennpunkten finanziert werde – so vor allem die Befürchtung aus dem gastgebenden Hause, wo das Klima intakt sei – dank guter Sozialarbeit.

Buergerdialog-Dresden_Nicole-Herzog_20160225-03Hier gab es ein spannenden Disput zwischen Schülervertreter und Ministerin: Der Schülerrat fordert, dass die Sozialarbeit direkt vom Land bezahlt wird. Dem widerspricht Kurth: Schulsozialarbeit müssen unabhängig vom Lehrerkollektiv geschehen, weil ja für Schüler auch die Lehrer selbst ein Teil ihrer Problemlage sein können.

Schwer hatte es in Dresden natürlich das Thema „Schulen im ländlichen Raum“, zu dem sich neben Schulnetzplaner Thomas Rechentin und Moderatorin Anikó Poppela nur drei Leute einfanden. Doch auch dort eine neue Forderung: ein Bildungsticket für alle zum gleichen Preis.

Gemeinsames Lernen nicht unmöglich

Kultusministerin Kurth switchte zwischen den Räumen, aber Taktiker, die mit ihrem Statement gern auf ihr Erscheinen warten wollen, könnten Pech haben. Andererseits geht aber auch nichts verloren, weil Moderatoren und ihre Experten fleißig notieren und auch das Publikum zum Schluss heftig Postkarten für die großen weißen Boxen schreibt. So war es auch für die Vertreter von „Gemeinsam länger lernen in Sachsen“, als Verein in der Dresdner Neustadt angesiedelt, nicht von Nachteil, weil ausgerechnet der Experte aus dem Leitungsstab des stellvertretenden Ministerpräsidenten im Raum saß. Er konnte die Frage nach der Möglichkeit einer Art Gemeinschaftsschule, die als solche im Koalitionsvertrag „unter keinen Umständen“ festgeschrieben werden konnte, den Passus im neuen Schulgesetz erläutern: Sie ist zwar explizit nicht vorgesehen, aber auch nicht gänzlich ausgeschlossen. Es sei so formuliert, dass man bei sich änderndem Rahmen nicht unbedingt das Gesetz neufassen müsse, formuliert er es schelmisch.

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Beifall gab es in Dresden erst zum Schluss – aber das war nicht anders zu erwarten. Zuvor waren jedoch die beiden von Markus Füller als „gordische Knoten“ erfragten Probleme Thema: Geld und Stellen. Der prosperiende Freistaat mit großem Schülerzuwachs gebe ihr gute Argumente, aber es werden keine Bäume in den Himmel wachsen – oder „zwei Lehrer vor einer Klasse stehen“. Auch Schulleiter Jens Reichel zeigte sich sehr zufrieden über den konstruktiven und sachlichen Ablauf und wurde für die Organisation en passant mehrfach gelobt, diesen Pluspunkt gab er gern an die Organisatoren weiter.

Diese haben Anfang nächster Woche noch zwei Etappen des Novellen-Marathons vor sich:
• am 29. Februar in Leipzig (18 Uhr, Anton-Philipp-Reclam-Schule / Gymnasium) und
• am 1. März in Chemnitz (18 Uhr, BSZ Wirtschaft 1).

5 Kommentare

  1. Günther Ebert 8 Jahren vor

    ich setze mich als Privatperson (ansonsten Mitglied der Osnabrücker Friedensgespräche, Uni Osnabrück) für einen FREIEN Weltgerichtshof mit Sonderstatus einer Weltpolizei ein. Die Grundidee stammt von Erasmus von Rotterdam, der seinerzeit gefordert hat, alle politischen Streitigkeiten gesittet über ein Gericht zu lösen, statt mit den Massenmorden der Kriege.
    Vielleicht befindet sich in Ihren Reihen jemand, mit dem ich in Verbindung treten könnte.
    Mit freundlichen Grüßen
    Günther Ebert

    • Dirk Reelfs - SMK 8 Jahren vor

      Sehr geehrter Herr Ebert,
      ich fürchte, das Kultusministerium ist in diesem besonderen Fall nicht der richtige Ansprechpartner für Sie. Möglicherweise wären das Justiz- oder das Innenministerium die richtigen Adressen für Sie. Sie können uns auch gern anrufen, um die Kontaktdaten zu erfahren.
      Mit freundlichen Grüßen
      Dirk Reelfs

  2. Tim Schneider 8 Jahren vor

    Meine Frage/Anmerkung bezieht sich auf den Einsatz von Inklusionsassistenten in Sachsen.
    Laut dem ESF und der Finanzierung über die SAB ist der Einsatz von Inklusionsassistenten in Sachsen nur über entsprechende Freie Träger geplant?
    Ich frage mich warum eine Einstellung über den Freistaat Sachen nicht möglich ist?
    Ich denke der Aufbau unseres Wirtschaftssystems wird allen bekannt sein, zusätzliche Instanzen schaffen unproduktive Orte an denen nichts passiert und entsprechend wird da auch Geld vernichtet.
    Auf diese Weise wird man nur halb motivierte Arbeitskräfte und ich sage bewusst Arbeitskräfte finden, die, die halt nichts besseres finden. Dabei ist es gerade bei dieser Aufgabe besonders wichtig, da werden Leute gebraucht, die in Ihrer Arbeit aufgehen und nicht gerade vom Zeitung ausfahren kommen oder im Anschluss Pizza ausfahren, da sie noch einen Nebenjob brauchen.

    Warum bekennt man sich nicht offensichtlich zur Inklusion im und über den Freistaat, sondern schiebt irgendwelche Freien Träger vor?
    Scheitert gute Inklusion etwa daran, dass man den entsprechenden Mitarbeitern keine unmittelbare Anstellung im sächsischen Schuldienst geben möchte?
    Ein klares Bekenntnis fehlt hier, sehr schade.

    • Dirk Reelfs - SMK 8 Jahren vor

      Sehr geehrter Herr Schneider,

      vielen Dank für Ihre Frage. Gern will ich versuchen, ihnen zu erklären, warum die „Inklusionsassistenten“ nicht beim Freistaat angestellt werden können. Der Einsatz von Inklusionsassistenten ist im Übrigen nur ein kleiner Baustein in der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention. Ein weiterer ist zum Beispiel der Umstand, dass zunehmend Förderschullehrer, die beim Land angestellt sind, an Regelschulen eingesetzt werden, um Schüler mit Behinderung zu unterrichten. Inklusionsassistenten werden jedoch mit Mitteln aus dem Europäischen Sozialfonds (ESF) bezahlt. Grundlage der ESF-Förderung ist die sogenannte Additionalität, d. h. die zu fördernde Maßnahme darf keine anderen Leistungen des Freistaates ersetzen. Im Sinne einer eindeutigen Abgrenzung der staatlichen Aufgaben (z. B. Tätigkeiten der Lehrkräfte) von Aufgaben, die sich durch Sozialgesetzgebung oder Maßnahmen des ESF ergeben, werden deshalb freie Projektträger als Auftragnehmer gewonnen.

      Mit freundlichen Grüßen

      Dirk Reelfs

  3. Gläser, Jana 8 Jahren vor

    Betreff Inklusion in der Grundschule:
    Es ist uns wichtig, darauf hinzuweisen, dass bei einer Unterrichtsverpflichtung von 28 Stunden eine Stundenminderung für die Klassenlehrer sowie ein Zweitlehrer für mindestens 5 Stunden pro Woche notwendig ist. Diagnostik, individuelle Förderung und Elternberatung beanspruchen zusätzlich viel Zeit, Kraft und Räume. Unsere Lehrer unterrichten seit 9 Jahren in einem Systembau ohne ausreichende Sanitäranlagen. Perspektivisch ist eine Änderung auch nicht in Sicht. Die Kollegen arbeiten schon jetzt am Limit bzw. freiwillig in Teilzeit. Der Krankenstand hat sich in den letzten Jahren erhöht und es gibt nicht genügend Vertretungslehrer.
    Unsere Befürchtungen sind, dass unter den bisherigen Bedingungen das jetzige Bildungsniveau nicht zu halten ist.