Um Demokratie zu verstehen und zu leben, braucht es eine oder zwei Generationen. Das war in Westdeutschland auch so, sagt Politikwissenschaftler Hans Vorländer. Über zu hohe Erwartungen an Politik, ein falsches Demokratie-Verständnis und Grenzen direkter Mitbestimmung sprach Nicole Kirchner mit dem Direktor des Zentrums für Verfassungs- und Demokratieforschung an der Technischen Universität Dresden.
Sie haben sich als Wissenschaftler intensiv mit der Pegida-Bewegung beschäftigt. Warum sind die Sachsen so frustriert gegenüber der Politik und der Demokratie?
Prof. Dr. Hans Vorländer: Man muss erst einmal richtigstellen, dass nicht alle Sachsen frustriert sind. Wir haben aber festgestellt, dass diejenigen, die zu Pegida gehen, unzufrieden sind mit der Demokratie, wie sie praktiziert wird. Und das äußert sich eben in der Kritik an Politik, Elite und Medien.
Woher kommt dieser Frust?
Das wissen wir nicht so richtig. Aber vielleicht hat es damit zu tun, dass viele Menschen zu hohe Erwartungen an die Demokratie und an die Politik haben. Sie glauben, dass Politik alles regeln muss und kann. Das ist aber nicht so, vor allem in Zeiten großen Wandels und großer Unsicherheit. Manche sagen: »Wir bestellen und ihr Politiker müsst liefern.” Das ist ein Dienstleistungsverständnis. Politik gibt es aber nicht als Pizzaservice. Außerdem kommt ein falsches Verständnis oder inadäquates Verständnis von demokratischen Prozessen hinzu. Demokratie lebt davon, dass Menschen unterschiedliche Interessen und Wertvorstellungen haben, die in einem, manchmal sehr konflikthaften Prozess, zu einem Kompromiss geführt werden müssen. Das ist ein langwieriger Prozess, der über Bürgerbeteiligung, Parteien, Parlamente führt und schließlich in eine Entscheidung mündet.
Ein falsches Demokratie-Verständnis: Ist das ein ostdeutsches Phänomen?
Generell gilt: Viele Menschen in der Bundesrepublik West wie Ost sind unzufrieden mit der konkreten Praxis der Demokratie, wenngleich sie der Demokratie als Staatsform ganz überwiegend zustimmen. Aber die Unzufriedenheit ist in Ostdeutschland noch größer. Man braucht einfach eine gewisse Zeit, um sich in die Demokratie hineinzuleben. Anscheinend reichen dafür 25 Jahre nicht aus. Nicht alle Menschen haben in dieser Zeit gute Erfahrungen mit demokratischen Prozessen gemacht. Hinzu kommt, dass manche Menschen in den letzten 25 Jahren den Prozess des gesellschaftlichen, ökonomischen und sozialen Wandels so unmittelbar und stark erfahren haben, dass Verunsicherungen und latente Ängste, das Erreichte wieder zu verlieren, zurückgeblieben sind. Das äußert sich jetzt als Kritik an unserer Demokratie.
Was wäre jetzt der nächste Schritt, um diesen gesellschaftspolitischen Prozess weiter in Gang zu setzen und dieses falsche Verständnis aufzulösen?
Erstens muss man den Menschen genau zuhören, welche Sorgen sie haben. Sodann sind sie zu ermutigen, ihre Belange selbst in die Hand zu nehmen und sich zu engagieren – und zwar in konstruktiver Weise. Es reicht in einer Demokratie nicht, dass man nur seinen Protest lautstark herausschreit, sondern man sollte ihn konstruktiv werden lassen. In Initiativen, in Parteien, im Parlament, bei Wahlen oder eben auch in öffentlichen Diskussionen. Politisches Engagement hilft auch, Probleme zu lösen. Und so wird es möglich, sich in der Demokratie zurecht zu finden und mit der Demokratie und all ihren Defiziten, aber eben auch den großen Möglichkeiten leben zu können.
Wie lange wird uns dieser Prozess noch begleiten?
Darauf gibt es keine konkrete Antwort. Es braucht mindestens eine, manchmal auch zwei Generationen, um sich mit einer neuen politischen Ordnung zu identifizieren und sich diese anzueignen. Das war in der alten Bundesrepublik auch so. In den 1970er Jahren gab es große politische Polarisierungen. Aus dem Ergebnis dieser Polarisierung hat sich ein neues Verständnis entwickelt, womit Menschen die Demokratie als die eigene angenommen und anerkannt haben.
Wo hat man aus Ihrer Sicht diesbezüglich in den letzten 25 Jahren Fehler gemacht?
Die Energien waren auf Um- und Aufbau gerichtet. Das war auch richtig so. Dabei hat es aber an Zeit und Freiräumen gemangelt, die Demokratie jenseits von Wahlen als lebens- und schützenswertes Gut zu erfahren.
Brauchen wir in Deutschland mehr oder weniger Demokratie?
Es kommt immer darauf an, was man unter Demokratie versteht. Wir brauchen immer das Engagement der Bürger, davon lebt die Demokratie. Politik ist schon vom Wortbegriff her nichts Anderes als »die Angelegenheit der Bürger, die die Bürger selbst regeln«. Ohne Engagement funktioniert Demokratie nicht. Gerade im kommunalen Raum gibt es viele, auch direkte, Beteiligungsmöglichkeiten für Bürger und auch bessere Einflussmöglichkeiten. Das ist beim Land, beim Bund oder auf europäischer Ebene schon etwas schwieriger. Wer jedoch glaubt, in der direkten Demokratie liege das Allheilmittel für Demokratieverdrossenheit, der irrt.
Man muss also auch das Scheitern lernen…
Man muss eine Frustrationstoleranz entwickeln. In einer Demokratie kann man nicht immer gewinnen und man kann auch nicht immer erwarten, dass Politiker das umsetzen, was ich selbst will. So funktioniert Demokratie nicht. Manchmal gehört man zu den Verlierern, das ist auszuhalten. Und doch kann es beim nächsten Mal schon ganz anders sein, da findet man eine Mehrheit. Das ist der Vorteil von Demokratie.
Nicole Kirchner sprach mit Hans Vorländer auch über Demokratieerziehung an Schulen und die Bedeutung von Vereinen für die Demokratie. Der zweite Teil des Interviews erscheint demnächst im SMK-Blog.