»Demokratie muss immer wieder neu verteidigt werden«

»Demokratie muss immer wieder neu verteidigt werden«

Schülerinnen und Schüler des Freie Alternativschule Dresden e. V. besuchten die Ausstellung »Einige waren Nachbarn. Täterschaft, Mitläufertum und Widerstand«, die noch bis zum 1. Mai 2022 im Deutschen Hygiene-Museum Dresden zu besichtigen ist. Die Schülerinnen Johanna Feiler und Tilia Becker und die begleitende Lehrerin Anja Apel sprechen über ihre Eindrücke.

Sehr geehrte Frau Apel, die Ausstellung »Einige waren Nachbarn« behandelt laut Begleittext die »Rolle der Menschen im Holocaust und die Vielzahl von Motiven und Spannungen, die individuelle Handlungsoptionen beeinflussten«. Was haben Sie dabei erfahren?

Die Bilder und Filmdokumente, welche deutlich zeigen, dass die Bevölkerung von all den Geschehnissen und Verbrechen wussten, sich sogar beteiligten, sind beängstigend. Ich frage mich oft, wie kann man den Kindern und Jugendlichen einen inneren Kompass geben, der so etwas niemals zulässt.

Wie haben Sie Ihre Schülerinnen und Schüler auf den Ausstellungsbesuch vorbereitet und wie diesen Unterrichtsgang nachbereitet?

Im Geschichtsunterricht gab es eine kurze Einführung, wir waren außerdem im Schuljahr davor auf der jährlichen Schulwanderung in Buchenwald. Diese Klasse wird in einigen Wochen eine Woche zur Gedenkstättenarbeit nach Nordhausen – Mittelbau Dora fahren. Wir haben dies in unserem Schulkonzept verankert.

Wir bieten auch jedes Jahr den Schülerinnen und Schülern an, an der Namenslesung jüdischer Namen teilzunehmen, als Zuhörende oder auch Vorlesende.

Denken Sie, dass das Thema Antisemitismus vor allem ein geschichtliches oder auch noch ein aktuelles ist?

Es ist sehr aktuell, weil Demokratie jederzeit gefährdet ist. Sie muss immer wieder neu verteidigt werden. Mein Kollege Fabian Pilgrim (Geschichtslehrer) hat ein neues Unterrichtsfach »Menschenrechte« konzeptionell entwickelt. Kolleginnen und Kollegen, Eltern und Schülerinnen und Schüler arbeiten gemeinsam in einer Arbeitsgruppe, um die verschiedenen Module mit Inhalten zu füllen und eine Zusammenarbeit mit verschiedenen Initiativen und Vereinen zu organisieren. Nächstes Schuljahr wollen wir damit starten.

Wie gehen Sie auf aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen in Ihrem Unterricht ein?

Zum Glück haben wir Strukturen, die das gut ermöglichen. Wir beginnen jeden Tag mit einer halben Stunde Morgenkreis, in welchem auch Zeit für den Austausch zu aktuell politischen Ereignissen ist. Der Krieg in der Ukraine nahm natürlich einen viel größerem Raum ein, da ging es darum, die Ängste und Sorgen aussprechen zu können und dann auch Fakten zu den historischen Hintergründen des Konfliktes zu geben. Wir haben das in den Klassen 7 bis 10 im Mathematikunterricht gemacht. Das können wir nicht nur an den Geschichts- und Gemeinschaftskundeunterricht abgeben. Es ist eine Aufgabe für alle Pädagoginnen und Pädagogen.

Wir haben in Dresden großartige Unterstützung und gute Lernorte außerhalb der Schule. Für die 9. Klasse findet in diesem Schuljahr noch ein Projekt zweimal je vier Tage zur DDR- Geschichte statt. Konzeptionell werden diese von der Gedenkstätte Bautzner Straße begleitet und es werden sehr viele verschiedene Orte in Dresden dazu aufgesucht. Es ist auch wieder eine Auseinandersetzung zum Thema Demokratie, Zivilcourage und Verantwortung für die Gesellschaft. Ein wichtiger Baustein ist für uns außerdem, dass die Jugendlichen die Erfahrung machen, dass sie sich an den Prozessen in der Schule beteiligen und Dinge verändern können.

Anja Apel ist Lehrerin beim Freie Alternativschule Dresden e. V. und unterrichtet die Fächer Mathematik, Physik, Ethik, Gemeinschaftskunde, Darstellendes Spiel.

Tilia Becker, 15 Jahre

»Antisemitismus und Rassismus gibt es auf keinen Fall nur in der Vergangenheit. Ich brauche nur ein Stück zurückdenken, da fällt mir als Beispiel der Angriff auf die Synagoge in Halle ein, ein Beispiel für Antisemitismus. Auch für Rassismus kenne ich viele Beispiele. In den meisten Fällen sind das abfällige Bemerkungen und das nicht ernst nehmen gegenüber von People of color. Im Museum hat mich am meisten ein Video berührt, in dem zwei Personen einen Sack übergestülpt bekommen haben. Sie wurden in der Öffentlichkeit gedemütigt, in dem ihnen Stück für Stück die Haare abgeschnitten wurde, nur vorne wurde eine Strähne gelassen, um sie wie ein Horn abstehen zu lassen. Während der ganzen Zeit haben richtig viele Leute zugeschaut und gelacht. Aber am traurigsten fand ich die Gesichter der beiden Personen, keine einzige Emotion war in den Gesichtern zu sehen, sie haben einfach alles über sich ergehen lassen.«

Johanna Feiler, 14 Jahre

»Bei dem Besuch der Ausstellung ›Einige waren Nachbarn waren es vor allem die Menschen, die bei Demütigungen, Verbrennungen und Deportationen zugeschaut oder gar mitgemacht haben, was mich berührt hat. Es war und ist mir immer noch nicht klar, wie auf den Bildern die Menschen glücklich lachen können, während andere so vorgeführt wurden. Bei mir sind Fragen aufgekommen, die nicht zu beantworten sind. Wie kann es sein, dass niemand eingeschritten ist? Aber am schlimmsten ist, dass ich angefangen habe zu zweifeln, dass in allen etwas Gutes steckt. Ich frage mich, ob Menschen wirklich so über andere denken, dass sie ihnen so ein Schicksal gönnen. Heute gibt es auch Menschen, die rassistisch sind und übergriffig werden. Wünschen diese Menschen, mit denen wir zusammen in einer Gesellschaft leben, auch den Tod von Menschen, die zum Beispiel eine andere Hautfarbe haben oder vor dem Krieg fliehen müssen? Ich kann es nicht begreifen, aber eines kann ich sagen: Dieses Thema ist heute genauso wichtig wie damals und nicht nur Geschichte, sondern aktuell.«

Bildungsangebote

Die Ausstellung des United States Holocaust Memorial Museums stellt die zentrale Frage: Wie war der Holocaust möglich? Die herausgehobene Rolle von Hitler und anderer führender Persönlichkeiten der NSDAP für die Durchführung der NS-Rassenpolitik ist unbestreitbar. Doch die Abhängigkeit dieser Tätergruppe von unzähligen anderen Menschen ist weniger bekannt. In NS-Deutschland und im von Deutschland dominierten Europa entwickelten sich überall – in Regierung und Gesellschaft – Formen von Zusammenarbeit und Mittäterschaft, wo immer die Opfer von Verfolgung und Massenmord auch lebten.

Die Ausstellung untersucht die Rolle der Menschen im Holocaust und die Vielzahl von Motiven und Spannungen, die individuelle Handlungsoptionen beeinflussten. Diese Einflüsse reflektieren Angst, Gleichgültigkeit, Antisemitismus, Karriereangst, Ansehen in der Gemeinschaft, Gruppenzwang oder Chancen auf materiellen Gewinn. Die Ausstellung zeigt aber auch Personen, die den Möglichkeiten und Versuchungen, ihre Mitmenschen zu verraten, nicht nachgegeben haben und uns daran erinnern, dass es auch in extremen Zeiten Alternativen zu Kollaboration und Täterschaft gibt.

Zahlreiche begleitende Bildungsangebote sind für Schulen buchbar. Die Ausstellungserkundungen ab Klasse 8 und die Fortbildung für Lehrkräfte werden in Kooperation mit HATiKVA – Bildungs- und Begegnungsstätte für jüdische Geschichte und Kultur Sachsen e. V. angeboten. Alle Informationen gibt es unter: www.dhmd.de/ausstellungen/einige-waren-nachbarn.

Die Landesservicestelle »Lernorte des Erinnerns und Gedenkens« der Brücke I Most Stiftung bietet finanzielle Unterstützung für Lernortfahrten sächsischer Schulklassen an. Die Ausstellung wird während der Laufzeit in Dresden temporärer Lernort sein. Weitere Informationen sowie den Antrag auf Kostenerstattung finden Sie unter: www.lernorte.eu/sachsen.

 

Text: Ralf Seifert

Bild: SFIO CRACHO | Adobe Stock

Lynn Winkler, Redakteurin für Social Media in der Pressestelle des Sächsischen Staatsministeriums für Kultus

1 Kommentar

  1. E. Günther 2 Jahren vor

    Demokratie ist wichtig und darf NIE untergraben werden – nicht vom Volk und genausowenig von den machthabenden Politikern.
    Etwas worüber alle gleichermaßen wachen sollten – gegenseitige Kontrolle ist immer angesagt.
    Vielen Dank.