»Negative Nachrichtflut führt dazu, dass sich Menschen nicht mehr beteiligen«
Krisen, Kriege, Terroranschläge, Umweltzerstörung – der Welt geht es so schlecht wie noch nie, und in Zukunft wird alles noch schlimmer. Dieser Eindruck drängt sich auf, wenn wir uns in den Medien über den Zustand der Welt informieren.
Die Neurowissenschaftlerin Maren Urner warnt vor den Folgen dieser Art von Berichterstattung, zeigt Wege aus dem mentalen Krisenmodus auf und welche Rolle Schulen dabei spielen können.
Frau Urner, Sie beschäftigen sich seit vielen Jahren damit, wie wir Informationen verarbeiten. Ein Instrument, was sie dabei verwenden, sind Wissenstests. Im Ergebnis zeigt sich immer, dass die Befragten den Zustand der Welt meist negativer beurteilen, als er tatsächlich ist. Warum ist das so?
Tatsächlich können wir sagen, dass es nicht nur meistens so ist, sondern immer. Ich mache seit 2015 diesen kleinen Ausschnitt vom Ignoranz-Test von Hans Rosling, den ich im Vorfeld immer als Wissenstest bezeichne, um die Menschen vorher nicht zu beeinflussen. Mittlerweile habe ich den Test in sämtlichen gesellschaftlichen Gruppen, Kontexten und Settings benutzt und es war immer so, dass die Einschätzung des Publikums negativer ist, als die Realität tatsächlich ist.
Woran liegt das?
Zum Großteil daran, welche Informationen wir zur Verfügung gestellt bekommen. Die stammen vor allem aus medialen Kontexten, von den klassischen Medien, wie Zeitung, Radio, Fernsehen und natürlich auch, seit mittlerweile einigen Jahrzehnten, aus dem Internet und den eher noch neuen sozialen Medien. Generell haben wir da eine Überrepräsentanz, eine Fokussierung auf Negatives. Das ist gut untersucht, auch in den unterschiedlichen Formaten, sei es in der Zeitung oder eben generell in Online-Medien. Die Anschlussfrage ist natürlich: Woher kommt diese Fokussierung aufs Negative?
… und Ihre Antwort darauf lautet wie?
Wir alle tragen den sogenannten »Negativity Bias« in uns, also einen Fokus auf negative Inhalte. Wir speichern negative Informationen und potentielle Gefahren nicht nur besser ab und reagieren intensiver auf sie, sondern suchen auch mehr danach. Also ganz einfach runtergebrochen: Negatives verarbeiten wir besser, schneller und intensiver als positives oder neutrales. Verantwortlich dafür ist unser Steinzeithirn, wie ich unser Gehirn gern liebevoll nenne. Aus evolutionspsychologischer Perspektive ist der Negativitiy Bias sinnvoll und ein Überlebensvorteil. Denn eine verpasste negative Nachricht hat in Zeiten von Säbelzahntiger und Mammut potenziell den Tod bedeuten können.
Kann man zugespitzt sagen, das Narrativ der Medien lautet: Die Welt ist schlecht, voller Probleme und die Politik bekommt es nicht hin?
Ich tue mich immer schwer mit Pauschalaussagen, weil die Welt eben nicht nur schwarz und weiß ist. So gibt es natürlich auch unheimlich viele gute Medienangebote. Dennoch sehen wir auch: Im Mittel ist die von Ihnen genannte Haltung zu stark vertreten. Im Durchschnitt haben wir einen zu starken Fokus aufs Negative. Das ist auch gut versinnbildlicht durch die beiden journalistischen Slogans: »Only bad news are good news« und »What bleeds, that leads«. Also nur die schlechten Nachrichten sind gute Nachrichten, weil wir wissen, dass sie sich aufgrund des Negativity Bias besser verkaufen. Und dort, wo es blutet, entstehen die Titelthemen.
Was macht diese Fokussierung der Medien auf die negativen Nachrichten mit uns?
Zunächst sorgt es für das bereits erwähnte zu negative Weltbild. Manch Journalist argumentiert gern, dass das nicht weiter schlimm sei und die Menschen in der Folge besonders aktiv würden, um an den schlechten Zuständen etwas zu ändern. Doch sämtliche Forschungsergebnisse aus der Verhaltensforschung zu der Thematik zeigen ein anderes Bild. Sie zeigen, dass genau das Gegenteil der Fall ist.
Ein zu negatives Weltbild führt nicht dazu, dass wir besonders aktiv, hoffnungsvoll und mit möglichst guten Ideen auf diese Herausforderungen und Probleme reagieren, die ja offensichtlich unsere Zeit beeinflussen. Stattdessen sind wir gefühlt dauerhaft im Krisenmodus und das führt dazu, dass wir chronisch gestresst sind. Damit einher gehen häufig Gefühle von Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit. Am Ende des Tages führt das dazu, dass sich immer mehr Menschen vom Weltgeschehen abwenden, weil es einfach zu viel erscheint. Dieses Phänomen ist mittlerweile sehr gut untersucht und wird als »News-Avoidance« bezeichnet.
Außerdem kann der exzessive Konsum der negativen Nachrichtenflut uns tatsächlich gesundheitlichen Schaden zufügen. Denn chronischer Stress ist ein Risikofaktor für sämtliche Krankheiten, egal ob Herz-Kreislauf-Probleme oder psychische Leiden.
Schlussendlich sind wir gestresst und ängstlich nicht in der Lage, gute und langfristige Entscheidungen zu treffen. Stattdessen entscheiden wir mit einem kurzfristigen Blick auf das reine Überleben konzentriert.
Führt die ständige Dauerberieselung an negativen Nachrichten auch zu Politik- und Medienverdrossenheit?
Genau richtig. Das Phänomen, was sie jetzt gerade beschrieben haben, ist das Phänomen der sogenannten »erlernten Hilflosigkeit«. Sehr anschaulich auf den Punkt gebracht durch die oft bemühte Aussage: »Die da oben machen sowieso, was sie wollen!« Gemeint ist der Punkt, an dem viele Menschen ankommen, wenn sie erfahren, dass sie nichts ändern können und die Welt nun mal schlecht und ein grausamer Platz ist, auf den sie wenig Einfluss haben. Gesamtgesellschaftlich und demokratisch gedacht, führt das dazu, dass sich Menschen nicht mehr an der Gesellschaft beteiligen.
Sie haben für sich schon eine gewisse Antwort auf die Problematik gefunden. Das Online-Magazin »Perspective Daily«, das Sie mitgegründet haben, arbeitet nach dem Prinzip des Konstruktiven Journalismus. Können Sie uns erklären, was Konstruktiver Journalismus ist?
Kurz gesagt: Die übergeordnete Frage des konstruktiven Ansatzes oder des Konstruktiven Journalismus lautet »Was jetzt?« oder ein bisschen ausführlicher »Wie kann es weitergehen?«. Diese Frage wird zusätzlich zu den klassischen W-Fragen, also Wer, Wo, Wie, Wann usw. mitgedacht und dabei nicht nur am Ende hintenangestellt, sondern sie führt die Berichterstattung übergeordnet an.
So wird die Denkweise oder das Mindset, also mein Blick auf die Welt und alles, was ich darin wahrnehme und erlebe, verändert. Das fängt an bei der Auswahl meiner Interviewpartnerinnen und -partner an, zieht sich durch die Fragen, die ich stelle sowie durch die Recherche und natürlich auch die Ausarbeitung der Beiträge.
Es geht dabei nicht darum, dass die Journalistinnen und Journalisten Lösungen zu entwickeln oder die »Was jetzt?-Frage« aus ihrer Sicht zu beantworten, sondern eben diese Lösungen und Antworten auf die Frage zu recherchieren. Damit liefert der Konstruktive Journalismus ein vollständigeres und damit realistischeres Bild der Welt, als das, was wir im Mittel aktuell haben.
Wer in digitalen Medien unterwegs ist, macht die Erfahrung, dass alles, was emotionalisiert, gut funktioniert. Je drastischer und je emotionaler kommuniziert wird, desto mehr Klicks gibt es. Es drängt sich der Eindruck auf, dass dieser Grundsatz auch zunehmend in der professionellen Berichterstattung der Medien Einzug gehalten hat. Wer in der Redaktion am Newsdesk sitzt, erkennt, Emotionalität ist die Währung, die zählt.
Absolut. Und da sind wir bei einem weiteren psychologischen und neurowissenschaftlichen Aspekt. Es geht nicht nur um die Negativität, sondern auch um die Emotionalität. Negatives funktioniert zwar schon nochmal besser, aber auch wenn etwas sehr positiv emotional aufgeladen ist, erzeugt das eine höhere Reichweite oder Betroffenheit bei den Menschen, als neutralere Darstellungen.
Die Frage ist jetzt: Wie gehen wir damit um? Hier müssen wir automatisch über die Finanzierung von Journalismus bzw. Qualitätsjournalismus sprechen – auch wenn das nicht so gern getan wird. Wenn wir nicht offener und konstruktiver darüber sprechen, kommen wir nicht raus aus der Sündenbocksuche, bei der die Medienschaffenden auf die Rezipienten zeigen und sagen: »Aber die wollen das doch, da klicken sie drauf!« Auf der anderen Seite klagen die Rezipienten: »Moment mal, die Medien sind die Schuldigen, weil sie den ganzen Kram anbieten!« So wird der Schuldball munter hin und her geworfen. Das ist weder zielführend noch nach vorn gedacht.
Es geht also darum zu fragen: Wie kann sich Journalismus in Zukunft finanzieren? Im Online-Bereich haben wir gesehen, dass das Werbemodell oder das gemischte Modell nicht mehr aufgeht. Das ist ein Grund warum sich »Perspective Daily« durch seine Nutzerinnen und Nutzer finanziert. Denn Werbung und Journalismus verfolgen komplett entgegengesetzte Ziele.
Was müssen Schülerinnen und Schüler erlernen, damit sie gesund Medien nutzen können? Welche Bewältigungsstrategien müssen sie vermittelt bekommen, um mit der digitalen Medienflut und der digitalen Dauerberieselung umgehen zu können?
Ich bin wirklich fest davon überzeugt, dass die wichtigste Kompetenz das sogenannte »kritische Denken« ist. Das bedeutet, Informationen von außen, aber auch sich selbst und die eigene Wahrnehmung stets kritisch zu hinterfragen. Denn neben dem Negativity Bias bringt unser Steinzeithirn noch viele weitere Verarbeitungsstrategien mit sich, die dafür sorgen, dass wir nicht die objektiven Informationsverarbeiter sind, für die wir uns gern halten. Der Bestätigungsfehler beispielsweise meint das Phänomen, dass wir Informationen eher glauben, wenn sie in unser bestehendes Weltbild passen.
Statt eines zusätzlichen Faches »Medienkompetenz« vertrete ich den Ansatz, der zum Beispiel in Finnland schon sehr erfolgreich praktiziert wird. Dort zieht sich die Fähigkeit des kritischen Denkens auf Schulebene durch das komplette Kurrikulum. Das Gleiche sollte dann auf der Hochschulebene und natürlich auch bei der medialen Bildung im Erwachsenenalter fortgesetzt werden. Es geht darum, kritisches Denken immer wieder einfließen zu lassen, dafür zu sensibilisieren und es zu belohnen.
So können Geschichtslehrerinnen und -lehrer Übungen mit den Schülerinnen und Schülern machen, bei denen sie erlernen, glaubwürdige Quellen als solche zu erkennen. Gleiches lässt sich in anderen Fächern üben, in denen Schüler Fake Bilder und Texte erkennen lernen.
In Finnland sehen wir, dass das erfolgreich praktiziert wird und dass die Schüler dort im OECD-Vergleich die beste Medienkompetenz haben.
Muss es nicht auch um einen zumindest vorübergehenden Medienentzug gehen?
Natürlich. Ich kann zum Beispiel sagen, dass es bestimmte Zeiten gibt, in denen ich mein Handy nicht nutze, wo ich wirklich Technik-, Handy- oder Inputfreie Zonen habe. Das kann in der Natur sein, das kann mit anderen Menschen sein, das kann eine bestimmte Uhrzeit sein. Da ist es auch Aufgabe der Schule, das entsprechend anzuregen und zu üben.
Wie die Gewohnheiten etabliert werden, muss jeder auch immer ein wenig für sich selbst herausfinden – wir sind nicht alle gleich. Trotzdem gibt es grundsätzliche Prinzipien, nach denen unser Gehirn besonders gut funktioniert, zum Beispiel über Uhrzeiten oder sogenannte »Wenn-Dann-Bedingungen«. Ein Beispiel: Wenn wir gemeinsam am Tisch sitzen, dann gibt es keine Handys. Dann macht man das irgendwann automatisch so. Die Schule hat hier die Aufgabe, diese Gewohnheiten anzuregen, die Schülerinnen und Schüler dabei zu unterstützen und mit ihnen zu üben.
Medien schaffen mediale Wirklichkeiten. Unter Berücksichtigung von Nachrichtenfaktoren geht der Berichterstattung ein strenger Auswahlprozess voraus. Hinzu kommt der Hang zum Negativismus, zur Skandalisierung und zur Emotionalisierung. Welche Kompetenzen müssen junge Menschen haben, um stärker zwischen medialer und tatsächlicher Wirklichkeit unterscheiden zu können?
Ich denke, dass das Stichwort Ehrlichkeit eine wichtige Rolle spielt. Das, was ich erlebe und was mir viele aus dem Bekannten- und Freundeskreis, die auf journalistischer Ebene tätig sind, zurückspielen, ist eine grundsätzliche Verwirrung über die Vorstellung vieler Menschen, wie Journalismus funktioniere. Mit Ehrlichkeit und Transparenz meine ich, einen größeren Austausch zu schaffen. Es gibt bereits Formate, die das bereits leisten, aber auch hier gilt wieder: Im Mittel sind es noch zu wenige.
Das Tolle am Internet ist doch, dass wir das klassische Sender-Empfänger-Modell hinter uns gelassen haben. Wir sollten diese Chance des Austauschs noch mehr nutzen und wahrnehmen. Wir können dabei nicht nur über Inhalte reden, sondern auch über Methoden.
Müssen wir nicht auch lernen, mit einem gewissen Maß an Unsicherheit umzugehen?
Das große Thema der Unsicherheit ist etwas, was wir »dank« der Corona-Pandemie gesamtgesellschaftlich sehr viel besser verstehen und das macht mir Hoffnung. Mehr Menschen haben verstanden, dass Wissenschaft immer ein Prozess ist und bestimmte Aussagen mit Unsicherheit behaftet sind. Egal, ob es um die Wirkung von Impfungen oder Prognosen darüber geht, was in Zukunft möglich sein wird oder wie sich ein Pandemiegeschehen entwickeln wird.
Jetzt ist es unsere gesamtgesellschaftliche Aufgabe, diese Erkenntnisse auch auf andere Fragen zu übertragen und journalistisch kommunizieren. Wir wissen aus Studien, dass das Publikum das »aushält« und schätzt. Journalistinnen und Journalisten können den Menschen ruhig mehr zutrauen. Da bin ich dann bei meinen vorherigen Punkt, der vielleicht ein bisschen der Abschluss sein kann: Weg von dieser Schwarz-Weiß-Malerei, hin zu Grautönen. Auf der Seite der Mediennutzer und -nutzerinnen gilt es, dieses Bewusstsein ebenfalls zu stärken. Wir müssen alle noch besser lernen, zu sagen: »Das ist der aktuelle Stand unseres Wissens. Sehr wahrscheinlich wissen wir in einigen Wochen und Monaten mehr und können dann noch besser reagieren!«
Das Gespräch führten Dirk Reelfs und Eltje Kunze.
Zur Person
Maren Urner studierte Kognitions- und Neurowissenschaften in Deutschland, Kanada und den Niederlanden und promovierte am University College London. Sie ist Mitgründerin des Online-Magazins Perspective Daily, das erste werbefreie Online-Magazin für Konstruktiven Journalismus. Seit Oktober 2019 ist sie Professorin für Medienpsychologie an der Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft (HMKW) in Köln und Autorin.
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