Schritt für Schritt zum Lernprofi
Die Schule der Zukunft verankert feste Zeiträume und Lernorte für selbstbestimmte Lernphasen fest im Schultag. Das Dresdner Gymnasium Tolkewitz zeigt mit dem seit Jahren erprobten Konzept des »Selbstregulierten Lernens«, wie das in der Praxis aussehen kann. Die Schule bereitet die Schülerinnen und Schüler schrittweise darauf vor, selbstständig zu lernen.
»Das ist einfach cool, dass wir zusammen lernen können«, sagt Luise*. Die Schülerin der 5. Klasse am Dresdner Gymnasium Tolkewitz sitzt an einem der großen Tische im hellen, weitläufigen Flur des Schulgebäudes. Gemeinsam mit ihren Freundinnen Carla*, Sophia* und Hanna* löst sie Aufgaben zum Thema »Frühlingsgedichte«. Sie sammeln passende Wörter zum Frühling und wollen danach probieren, ein eigenes Gedicht zu schreiben. »Nebenbei quatschen wir ein bisschen, das ist schön«, sagt Carla.
Täglich »Selbstreguliertes Lernen«
Für die Kinder ist das »Selbstregulierte Lernen« (SRL) fester Bestandteil des Stundenplans. Damit beginnt für sie jeder Unterrichtstag: Von 8 bis 9 Uhr arbeiten sie klassenübergreifend, selbstständig und in ihrem individuellen Tempo an ihren Lernzielen, die sie am Anfang der Woche in ihrem Lernjournal festgelegt haben. Die Schülerinnen und Schüler dürfen außerdem wählen, wo und wie sie lernen möchten. Luise und ihre Freundinnen entscheiden sich am liebsten für den Freilernbereich, wie die Arbeitsplätze im Flur heißen. »Wir können uns gegenseitig helfen und kommen zusammen schneller voran«, sagt Luise. Während der Freilernbereich vor allem für Gruppenarbeit vorgesehen ist, können die Kinder auch allein im Ruheraum oder zu zweit mit einer Partnerin oder einem Partner in den Ateliers arbeiten. Die Ateliers sind Fachräume für die Fächer Deutsch, Mathematik, Englisch und WWC. WWC steht für »Wissen, Werte, Competencia« und ist ein Komplex aus unterschiedlichen Fächern und Lernen lernen.
Übergeordnetes Ziel ist, die Schülerinnen und Schüler im Laufe ihrer Schulzeit dazu zu befähigen, selbstständig zu lernen. »Wir wollen Menschen ausbilden, die eigenständig Probleme erkennen, Lösungswege erarbeiten, dabei zu einem begründeten Urteil gelangen und sich für deren Umsetzung engagieren«, erklärt Lehrerin Hanka Ackermann. Sie hat das Konzept, das mit der Gründung des Gymnasiums im Schuljahr 2017/18 eingeführt wurde, von Anfang an mitgestaltet und ist heute Koordinatorin für das »Selbstregulierte Lernen«.
Kinder lernen das Lernen
Hanka Ackermann und ihr Team verstehen das »Selbstregulierte Lernen« als einen Prozess, der sich ein Leben lang weiterentwickelt. Deshalb starten die Kinder der 5. Klasse zunächst mit einer Einführungsphase: In den ersten zwei Wochen begleitet sie der Koalabär Kalli Klug. Mit seiner Unterstützung lernen die Kinder, wie sie ihre Zeit sinnvoll planen, sich konzentrieren und motivieren oder wie sie Aufgaben richtig bearbeiten. Kalli Klug ziert auch das Deckblatt des Lernjournals, mit dem die Kinder ihren individuellen Lernprozess dokumentieren und reflektieren. Sie halten darin nicht nur fest, welche Aufgaben und Lernschritte sie geschafft haben, sondern auch, wie sie gelernt haben und was sie ändern müssten, um künftig noch besser lernen zu können. Luise zeigt das Wochenziel in ihrem Lernjournal: »Ich möchte auf jeden Fall nächste Woche noch mehr schaffen und konzentriert sein.« Mit der regelmäßigen Selbstreflexion analysieren die Kinder das eigene Denken, Fühlen und Handeln. »Sie lernen dabei, wie sie bestmöglich lernen können«, erklärt Hanka Ackermann.
Das »Selbstregulierte Lernen« in der Klassenstufe 5 ist dabei nur die erste Stufe eines durchdachten Konzeptes, das sich bis zur Oberstufe fortsetzt. Während der SRL-Unterricht im Jahrgang 5 in Zyklen von je vier Wochen eingeteilt ist, dauern die Zyklen für den 6. Jahrgang sechs Wochen. Im 7. Jahrgang machen die Schülerinnen und Schüler dann einen großen Sprung: Sie erlernen das wissenschaftliche Arbeiten in verschiedenen Workshops und arbeiten im zweiten Halbjahr an einem Großprojekt, dessen Thema sie selbst wählen dürfen. »Hier fangen die Kinder erstmals an, wissenschaftlich zu arbeiten«, sagt Hanka Ackermann.
Im 8., 9. und 10. Jahrgang müssen sich die Schülerinnen und Schüler dann für eines der vier Profile des Gymnasiums entscheiden. Der damit verbundene Profilunterricht greift Themen aus verschiedenen Unterrichtsfächern auf und ist stark davon geprägt, dass die Lernenden selbst aktiv werden. Noten gibt es für das »Selbstregulierte Lernen« keine – Worturteile ersetzen Ziffernnoten. Luise und ihre Freundinnen finden es gut, dass sie mal »ganz frei« sein dürfen. »Am Anfang hatten wir die Sorge, dass die Schülerinnen und Schüler ganz ohne Notendruck nicht motiviert genug sind«, sagt Hanka Ackermann und fügt hinzu: »Aber das Gegenteil ist der Fall. Die Kinder strengen sich richtig an und wollen aus einer intrinsischen Motivation heraus erfolgreich sein.«
Gut zu wissen
Das Strategiepapier zum »Bildungsland Sachsen 2030« plant weitere Maßnahmen, um selbstbestimmte Lernphasen an den Schulen zu fördern. Dafür werden Best- Practice-Beispiele, Ermöglichungsstrategien und Unterstützungsstrukturen zur organisatorischen, räumlichen und rechtssicheren Umsetzung selbstbestimmter Lernphasen schulart-, klassen- und jahrgangsstufenspezifisch zusammengestellt und erarbeitet. Die Ergebnisse und weitere Orientierungen zum selbstbestimmten Lernen werden zur Verfügung gestellt. Dafür sollen auch die Stundentafeln und Lehrpläne aller Schularten explizit Themen und Bereiche aufweisen, die durch digitale Medien im Rahmen von Selbstlernphasen bearbeitet werden.
Weitere spannende Beiträge lesen Sie in der neuen Sonderausgabe unserer KLASSE zum »Bildungsland Sachsen 2030«.
Text: Antje Tiefenthal
Fotos: Matthias Rietschel
* Namen von der Redaktion geändert