»Wir kriegen nicht jeden, aber viele«

»Wir kriegen nicht jeden, aber viele«

Hass, Beleidigungen, Drohungen – Lehrkräfte sowie Schülerinnen und Schüler sehen sich zunehmend auch im Netz damit konfrontiert. Unter Betroffenen herrscht oftmals Hilflosigkeit. Seit Beginn des Jahres gibt es mit der »Zentralen Meldestelle für Hasskriminalität im Internet« ein neues Bürgerportal zur Bekämpfung von Hass im Netz. Wir haben darüber mit Pascal Ziehm, Leiter der Stabsstelle Kommunikation der Polizei Sachsen, gesprochen.

Herr Ziehm, welche Aufgaben hat das neue Meldeportal? Und wie funktioniert es?

Foto: Polizei Sachsen | Philipp Thomas

Das Bürger-Portal ist neben dem Medien-Portal und perspektivisch dem Portal des Bundeskriminalamts einer von drei Bausteinen der Zentralen Meldestelle für Hasskriminalität im Internet in Sachsen (ZMI Sachsen), die wir im letzten Jahr beim Polizeilichen Terrorismus- und Extremismus-Abwehrzentrum (PTAZ) des Landeskriminalamtes Sachsen eingerichtet haben.

Ziel der ZMI Sachsen ist es, den Bürgerinnen und Bürgern, Unternehmen sowie Institutionen die Meldung derartiger Sachverhalte an die Strafverfolgungsbehörden zu erleichtern. Darüber hinaus soll durch die zentrale Entgegennahme, Vorprüfung und Koordinierung entsprechender Meldungen eine effiziente Strafverfolgung durch Polizei und Justiz sichergestellt werden. Das Anzeigen von Sachverhalten soll da ermöglicht werden, wo das strafbare Verhalten geschieht: im Netz. Mit dem Bürger-Portal wird zudem die Präsenz der Polizei im Netz erhöht.

Wo findet man das Portal?

Zu erreichen ist das Bürger-Portal über die Online-Wache der sächsischen Polizei auf polizei.sachsen.de. Seit Anfang des Jahres nimmt die ZMI Sachsen die Anzeigen zur Hasskriminalität im Internet zentral entgegen und veranlasst notwendige Erstmaßnahmen, wie die Ermittlung der IP-Adresse bei Telemediendienstanbietern oder Providern sowie die Anreicherung des Grundsachverhaltes mit ermittlungsrelevanten Informationen.

Dies muss alles sehr schnell gehen, da entsprechende Daten aufgrund der bis heute ungeklärten Mindestspeicherfristen maximal sieben Tage vorgehalten werden.

Erweist sich ein Sachverhalt als ermittlungswürdig, ist also strafrechtlich relevant, und ermittlungsfähig, erfolgt die weitere Bearbeitung durch eine Polizeidirektion oder das LKA in Abhängigkeit der Schwere der Straftat. Im Falle von akuten Bedrohungssachverhalten veranlasst die ZMI die erforderlichen Maßnahmen bei der örtlich zuständigen Dienststelle.

Darüber hinaus haben wir mit der Einrichtung der ZMI Sachsen ein breit gefächertes Beratungs- und Hilfsangebot zusammengestellt, um Betroffene im Zusammenhang mit Hass im Netz bestmöglich zu unterstützen. Diese Hinweise sind ebenfalls auf dem Internetauftritt der sächsischen Polizei zu finden.

Wann ist ein Kommentar strafbar und wann nicht?

Die Frage ist leider nicht ganz so einfach zu beantworten. Juristen sagen es gerne und viel: Es kommt tatsächlich auf die besonderen Umstände jedes einzelnen Sachverhaltes an. Man kann da keine ganz pauschale Antwort geben. Grundsätzlich muss man sich jeden Einzelfall und auch immer die Gesamtumstände genau anschauen. Aber als Faustformel kann man sich vielleicht merken: Die Freiheit meine Faust zu schwingen endet dort, wo die Nasenspitze eines anderen beginnt.

Das klingt ziemlich martialisch …

Immer dann, wenn ein Kommentar, ein Posting, ein Beitrag die Sachebene völlig verlassen hat, keinerlei Sachbezug mehr aufweist, es überhaupt nicht mehr eine irgendwie geartete Auseinandersetzung in der Sache gibt, sondern es nur noch darum geht, das Gegenüber in seiner persönlichen Ehre anzugreifen, in seiner persönlichen Ehre herabzuwürdigen, dann bewegt man sich meist im Nahbereich des Straftatbestandes der Beleidigung und kann dafür eben auch durch die Justiz belangt werden.

Foto: Polizei Sachsen | Philipp Thomas

Muss jemand, der einen Hasskommentar melden möchte, die Strafbarkeit überhaupt einschätzen können?

Nein. Der betroffene Internetnutzer, das Unternehmen oder die Institutionen müssen diese Entscheidung natürlich gar nicht treffen, ob das strafrechtlich relevant ist oder nicht. Sie können solche Sachverhalte im Zweifel immer anzeigen und das so eben auch durch die Behörden prüfen lassen. Das „Schlimmste“, was Ihnen passieren kann, ist, dass ihnen die Staatsanwaltschaft irgendwann zurückschreibt und sagt: Wir haben uns das angeschaut, wir haben das geprüft und wir sind zu dem Ergebnis gekommen, das erfüllt noch nicht den Straftatbestand der Beleidigung, Volksverhetzung oder ähnlichen einschlägigen Delikten – und dann hat sich die Sache damit erledigt. Von daher ist der Betroffene gar nicht in der Pflicht, das im Einzelnen prüfen zu müssen, sondern im Zweifel können sie solche Kommentare einfach anzeigen und durch die Polizei und Justiz prüfen lassen.

Bei Facebook oder bei Twitter noch viel mehr hat man oft das Gefühl, dass viele sich gar nicht bewusst sind, was sie mit ihren verbalen Entgleisungen anrichten.

Dass Hass und Hetze im Netz strafbar sind, merken viele Nutzer tatsächlich erst, wenn sie Post von der Polizei bekommen. Die Chancen, Tatverdächtige von solchen Anfeindungen zu ermitteln, stehen in der Tat nicht schlecht. Es sollte sich jedenfalls niemand sicher sein. Wir kriegen nicht jeden, aber viele. Das heißt, jeder, der vermeintlich anonym solche Taten begeht, sollte sich überlegen, ob er sich denn auch mit solchen Taten in einer öffentlichen Hauptverhandlung vor Gericht konfrontiert sehen möchte, ob er denn auch mit den Konsequenzen leben möchte, die so etwas nach sich ziehen kann: Das können Geldstrafen sein, das können in Extremfällen aber auch Freiheitsstrafen sein. Das Internet ist kein rechtsfreier Raum. Grenzen, die im analogen Leben selbstverständlich sind, gelten auch in der digitalen Welt. Wer diese Grenzen überschreitet, muss mit den Konsequenzen des Rechtsstaates rechnen – offline wie online.

Können sich auch Schülerinnen und Schüler sowie Lehrkräfte an die Meldestellen wenden, wenn sie Erfahrungen mit Hasskommentaren machen?

Das Bürger-Portal steht jedem offen, der einen Hasskommentar im Internet anzeigen möchte, ganz gleich ob Lehrkräfte oder Lernende, ob beruflich oder privat. Alle, die online beleidigt, verleumdet oder bedroht werden oder Ähnliches erlebt haben, können und sollten sich an unsere Meldestelle wenden. Wichtig ist, dass die Meldung zeitnah erfolgt, um die Aufnahme von Ermittlungen und die Sicherung von beweiserheblichen Tatsachen zu erleichtern.

Können Sie das Meldeverfahren kurz schildern?

Zu erreichen ist das Bürger-Portal über die Online-Wache der sächsischen Polizei auf unserem Internetauftritt. Hier kann die Anzeige für den Hasskommentar erstellt werden. Das geht ganz einfach: Anzeigebutton »Ich möchte einen Hasskommentar im Internet anzeigen« klicken, Anzeigemaske ausfüllen und abschicken, fertig. Damit wir tätig werden können, brauchen wir: eine Schilderung des Vorfalls, Screenshots vom Vorfall, Links zum Beitrag, Kommentar oder Inhalt des Vorfalls und die Kontaktdaten wie Name, Adresse und Telefon oder Mail. Das ist wichtig, denn die Strafverfolgungsbehörden brauchen einen Ansprechpartner, falls es Rückfragen gibt.

Auch auf den Social-Media-Kanälen des Kultusministeriums beobachten wir, dass sich Nutzerinnen und Nutzer zunehmend ausschließlich in ihren Filterblasen bewegen, für Argumente und Einflüsse von außen unempfänglich(er) sind und sich gegenseitig vielmehr in ihrer Denkweise/ihren Ansichten und dem damit verbundenen Hass gegenseitig bestätigen und »animieren«. Beleidigungen nehmen weiter zu. Können Sie diese Entwicklung bestätigen?

Fest steht, dass Hass und Hetze im Netz verbreitet sind. Wie groß die Menge an derartigen Inhalten genau ist, ist schwer zu sagen. Das Aufkommen verändert sich ständig, nicht zuletzt dadurch, dass die Behörden und auch große Online-Plattformen inzwischen verstärkt dagegen vorgehen. Wir haben natürlich eine sehr starke mediale Beachtung der extremen Stimmen, wodurch ein verzerrtes Bild entstehen kann: Je drastischer, desto größer die Garantie auf Aufmerksamkeit. Menschen achten auf so etwas besonders. Aber wenn wir dann auf unsere Zahlen schauen, dann sehen wir, dass die wirklich extrem hasserfüllten, sehr brutalen, erniedrigenden Postings von einer relativ kleinen Minderheit verbreitet werden.

Können Sie das in Zahlen ausdrücken?

In Sachsen haben wir in den letzten fünf Jahren polizeilich jährlich im Schnitt etwa 200 Fälle an strafrechtlich relevanten Hasspostings registriert. Bei den Delikten handelt es sich hauptsächlich um Volksverhetzung, Beleidigung, öffentliche Aufforderung zu Straftaten, Bedrohung und Propagandadelikte. Noch vor zehn Jahren spielten Hasspostings kaum eine Rolle. Die Fallzahlen lagen im unteren zweistelligen Bereich pro Jahr. Mit dem starken Zustrom von Flüchtlingen nach Deutschland nahm das Phänomen erstmals an Fahrt auf und wir registrierten allein im Jahr 2015 über 400 Fälle. Das war – gemessen an den Jahren davor – ein beachtlicher Trend nach oben.

Hat das auch mit der wachsenden Bedeutung der digitalen Netzwerke zu tun?

Natürlich geht diese Entwicklung mit der Öffnung des kommunikativen Raumes im digitalen Zeitalter einher. Wir erleben seit einigen Jahren eine gigantische Kommunikationsrevolution. Im Netz hat auf einmal jeder eine Stimme, kann sich zuschalten, barrierefrei, und seine Ideen in die virtuellen Erregungskreisläufe einspeisen. Wir erleben ein Schwächer-Werden des seriösen Journalismus, auch der Zeitungsöffentlichkeit, die ja früher so nach dem Leuchtturmprinzip agiert hat. Wir erleben eine neue Macht von Populisten in unterschiedlichen Ländern Europas. Wir haben einen enormen Strom an Daten, Nachrichten und Meinungen, der nie abreißt. Jeder ist auf einmal medienmächtig, aber eben noch nicht medienmündig. Wir können uns in unsere Informationswelt hineinbegeben. Unsere eigene Wirklichkeitsblase können wir aufsuchen. Aber wir sind doch gleichzeitig immer mit anderen Auffassungen, anderen Ideen, anderen Ansichten konfrontiert. Man klickt auf einen Kommentar, auf einen Link irgendwo in einem Forum. Schon ist man in einem anderen Kommunikationsuniversum. Jeder Link katapultiert einen potenziell in eine völlig andere Wirklichkeit.

Was macht das digitale Kommunikationsuniversum mit uns?

Dieses permanente Aufeinanderprallen von Parallel-Öffentlichkeiten ist wahrscheinlich eine tiefe Ursache der großen Gereiztheit, die sich dann in Hass und Hetze entlädt und in entsprechenden Straftaten niederschlägt. Die Kraft von Argumenten und Vernunft wird dabei oft überschätzt. Menschen orientieren sich nicht unbedingt an Fakten, sondern Menschen orientieren sich an dem, was für sie nützlich ist – zum Beispiel persönliche Beziehungen, Selbstbestätigung, inneres Gleichgewicht, Erhalt des Status quo oder der Gruppenzugehörigkeit. Deswegen sind das Miteinander-Reden und das Bemühen um Abkühlung, um Mäßigung, um verbale Abrüstung gerade in diesen Zeiten so unendlich wichtig geworden.

Welchen Beitrag können Nutzerinnen und Nutzer Ihrer Meinung nach selbst leisten, um im Netz eine Kommunikationskultur von Anstand und gegenseitigem Respekt zu unterstützen?

Als Erstes gilt: Vermeide pauschale Attacken. Wer einen anderen pauschal abwertet, ruiniert jeden Diskurs und jede Debatte und macht ein Gespräch tatsächlich unmöglich. Dann vielleicht auch klarer zu unterscheiden zwischen Position und Person: »Play the ball not the man«, könnte man auch sagen und ein Rad zum Fair-Play im Sport schlagen. Und schließlich: Die Wahrheit beginnt immer zu zweit. Jede und jeder Einzelne müsste in Vorleistung gehen und grundsätzlich davon ausgehen, dass bei aller strukturellen Komplexität der Dinge immer auch der andere recht haben könnte.

Es braucht immer ein Minimum an Wertschätzung, wenn man wirklich miteinander reden will. Ich muss mich an den Argumenten des anderen orientieren, auf ihn eingehen. Ansonsten verliert jedes Gespräch an Substanz, an Lebendigkeit und kann nicht mehr funktionieren.

Dabei hilft es zum Beispiel zwischen Verstehen, Verständnishaben und Einverstanden-Sein zu unterscheiden. Verstehen soll man den anderen immer, egal, wer er ist. Verständnis haben für seine Empfindlichkeiten? Vielleicht. Einverstanden-Sein ist eine vollkommen offene Frage. Dieser Dreischritt von Verstehen, Verständnis, Einverständnis kann helfen zu klären, wie gesprächsbereit ist man selbst und wie gesprächsbereit ist der andere.

Warum ist das so wichtig?

Eine zersplitterte Gesellschaft mit immer mehr Kleingruppenkonflikten, Parallelwelten und Ideologie-Communities, eine liberale offene Gesellschaft, die zu recht viel Wert auf Pluralität und Selbstentfaltung legt, muss dringend Ambivalenz-Bewältigung lernen. Jede und jeder muss aufs Neue lernen, Paradoxien auszuhalten, Mehrdeutigkeit zuzulassen und Widerspruch zu ertragen. Echte Toleranz beginnt dort, wo man Meinungen und Haltungen anerkennt und wertschätzt, gerade weil man sie nicht teilt. Das mag zwar alles etwas idealistisch klingen. Aber ohne ein nötiges Minimum an Idealismus kann auch eine liberale Demokratie und das kommunikative Miteinander irgendwie gar nicht funktionieren.

Pascal Ziehm ist Leiter der Stabstelle Kommunikation der Polizei Sachsen; Foto: Polizei Sachsen | Philipp Thomas

Lynn Winkler, Redakteurin für Social Media in der Pressestelle des Sächsischen Staatsministeriums für Kultus

4 Kommentare

  1. M.S. 3 Jahren vor

    Ich finde es gut, allerdings vermisse ich es, dass unter anderem dieser und ähnliche Punkte im Lehrplan aufgenommen werden. Ich möchte zu bedenken geben, es wird in den Schulen immer noch mit einem Lehrplan von 2004 gearbeitet. Daher ist eine Aktualisierung der Lehrpläne zwingend notwendig, damit alle Schüler auf aktuelle Themen / Gefahren im Leben vorbereitet werden.

    Es ist schön, dass solche Portale und Möglichkeiten geschaffen werden, nachweislich ist Prävention aber um ein vielfaches effizienter als Reaktion.

    Bitte aktualisieren Sie bitte nach 17 Jahren die Lehrpläne, damit unserer Kinder „up to date“ bleiben, entsprechend am Nabel der Zeit ausgebildet werden und damit im Internationalen Vergleich nicht abgehängt werden.

    Danke

    VG M.S.

    • Dirk Reelfs - SMK 3 Jahren vor

      Hallo M.S.,
      ganz so alt sind die Lehrpläne tatsächlich nicht. Gerade die Medienbildung, aber auch die politische Bildung wurden 2019 stärker in den Lehrplänen verankert. Zur Lektüre empfehle die Veröffentlichung im Blog: https://www.bildung.sachsen.de/blog/index.php/2019/06/25/neue-lehrplaene-fuer-sachsens-schulen/
      Viele Grüße
      Dirk Reelfs

    • Tine 3 Jahren vor

      Dazu müssen dann auch die Schulen geöffnet sein. Denn mein Kind bekommt jetzt langsam einen Koller. Dieses ständige hin und her. Schule auf. Schule zu. Konferenzen, Digitalunterricht und kein Ende in Sicht. Ich denke, im Moment haben wir andere Probleme und sollten diese erst einmal bewältigen. Ja, die Lehrpläne sollten generell überarbeitet werden. Wir bekommen durch das homeschooling viel mit und das meiste wird später im Leben nicht mehr gebraucht.

    • Dirk Reelfs - SMK 3 Jahren vor

      Hallo „Tine“,
      vielen Dank für den Kommentar. Wäre die Corona-Pandemie nicht dazwischen gekommen, würden wir uns jetzt mitten in der Diskussion zum „Bildungsland Sachsen 2030“ befinden. Das Projekt (https://www.bildung.sachsen.de/blog/index.php/2019/07/04/quo-vadis-bildungsland-sachsen-2030/) wurde vor der Pandemie im Sommer 2019 vom Kultusminister angeschoben und wird wieder mit Leben gefüllt, sobald uns die Pandemie weniger im Griff hat.
      Viele Grüße
      Dirk Reelfs