Dialogfazit: Die Quadratur des Kreises

Dialogfazit: Die Quadratur des Kreises

Das Kultusministerium wagte die sächsische Premiere und suchte erstmals mit einem Gesetzentwurf in der Tasche einen umfassenden Bürgerdialog – und zwar schon in Version der ersten Kabinettsfassung. Doch was brachten die neun Etappen der Schultour des Kultusministeriums, die vor allem in der sportlichen zweiten Halbzeit nach den Winterferien gern als Marathon bezeichnet und empfunden wurden? Hier ein erstes Fazit. Es war eine Rundreise durch Sachsen, aber auch eine Tour zum Kern des Problems: Wie kann Sachsen seine anerkannte Stellung im bundesdeutschen Schulwesen in Zukunft sichern? Auch war es eine Reise in erkennbar verschiedene sächsische Mentalitäten zwischen den geografisch gewählten Eckpunkten Bautzen, Torgau und Zwickau, also Ost-, Nord- und Westsachsen, und den Metropolen. Die neue Form des regionalen Dialogforums, angelehnt an das moderne wie offene Format des sogenannten „World Cafés“, war von Beginn an als Experiment konzipiert – ein Erfolg, ja selbst die Resonanz, aufgrund der komplexen Materie nicht wirklich abschätzbar. Dabei ist ihre Schulgesetznovelle, das stellte Kultusministerin Brunhild Kurth als Gastgeberin immer vor Ort, an jedem neu Abend dar, das ambitionierteste Regierungsvorhaben der aktuellen Koalition. Und, aufgrund weitreichender Betroffenheit, zwangsläufig auch das wichtigste wie kritischste im Lande.

Die Schultournee als Stressfaktor

Mit dem gesamten Führungsstab durchs Land ziehen – und sich dabei offen dem Bürger zu stellen, das bedeutet einerseits eine sorgfältige und punktgenaue Organisation, aber andererseits auch Überzeugungskraft nach innen – denn die Frage stand für die Abteilungs- und Referatsleiter, die im Außenmodus als Experten gefragt sind, aber als Gesetzesautoren natürlich auch rechtfertigen müssen, im Raum: Taugt solche Materie überhaupt zur Diskussion? Und fliegt uns unser eigenhändiges Gesetz da draußen um die Ohren? Präsenz wird da zur Pflicht.  

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Auftakt am 25. Januar in Frankenberg – wie mehrfach mit MDR-Beobachtung. Foto: Nicole Herzog

Doch schon die ersten Etappen zeigten: Das Dialogformat mit Thementischen zu den Schwerpunkten der zu erwartenden Kritik funktioniert – dadurch, dass alle Besucher zu Beginn und am Schluss gemeinsam und ohne Hast Sinn und Ergebnisse präsentiert bekommen, wird die teils ausufernde Diskussion wieder eingefangen. Die unabhängigen Moderatoren, souverän und konfliktgeschult, nahmen den Kultusexperten den direkten Druck und gaben ihnen Zeit zur Reflektion, ersparten aber auch nicht direkte Antworten. Die meiste Zeit brauchten sie, um zu erklären, warum Gesetze oft in Kann- statt Muss-Form geschrieben sind, keine Stellen- und Geldplanungen enthalten und warum Verordnungen erst später geschrieben werden können. Das ist müßig, aber nötig – und zeigt großen Aufklärungs- wie auch künftigen Schulbildungsbedarf. Die großen Plakate mit den 13 Schritten zum Gesetz fanden daher reißenden Absatz und sicher demnächst gute Verwendung im Unterricht. Doch mehr als die formalen bewegten die Sachprobleme die Gemüter, allen voran das eigene Themenfeld Inklusion und das Querschnittsproblem Lehrerbedarf.

Inklusion als gordischer Knoten

Fast die Hälfte aller Teilnehmer wählte das emotionalste Thema: Inklusion. Eine gesetzliche Pflichtaufgabe, die Ängste auslöst – und die alle Diskussionsrunden und sogar die betroffenen Eltern spaltete. Denn in Zukunft soll eine Diagnostik von Schülern mit möglichem sonderpädagogischen Förderbedarf in den Förderschwerpunkten „Lernen“ und „Emotionale und soziale Entwicklung“ erst nach der ersten Klasse erfolgen. Das ermöglicht gleichberechtigt die Chance zum Schulstart, beschäftigt aber Grundschul- genauso wie Förderschullehrerinnen. Die einen fürchten Überlastung, die anderen um den Bestand ihrer Schulen – und gehörige Mehrarbeit nach einem misslungenen Schulstart.  

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Kurze Demonstration in Dresden – danach wartete die Argumentation am Tisch mit den Experten des Ministeriums und des Schulalltags. Foto: Nicole Herzog

„Wie wollen Sie diesen gordische Knoten denn zerschlagen?“, fragte Hauptmoderator Markus Füller zum Dialogabschluss in Chemnitz. Kurth antwortete ehrlich, dass sie hier noch keine Patentlösung sehe, aber den Fehler anderer Bundesländer, die ihr Förderschulsystem nach der UN-Konvention ganz schnell über Bord warfen und das nun bitterlich bereuen, nicht wiederholen mag. Ebenso wie die Schulbudgetierung solle hier mit dem neuen Gesetz ein behutsamer Übergang erfolgen. Aber eine Lösung, die alle befriedigt, scheint so schwierig wie die Quadratur des Kreises.

Klartext im Zeitlimit

Positiv aufgenommen wurden generell die Option von mehr Autonomie der Schulen, auch wenn die Verantwortung für die Buchhaltung der Schulkonten noch zu klären ist. Schülervertreter wie Direktoren wünschen sich natürlich „schulscharfe Ausschreibungen“ für ihre Lehrerleerstellen. Klartext kam da von Burkhard Heinze, Referatsleiter für Personalbedarf: Das geht nur bei Lehrerüberschuss. Doch in den kommenden beiden Sommern sind hunderte Lehrerstellen altersbedingt neu zu besetzen. Dazu kommen 300 neue Lehrer für Inklusion – und die meisten Bewerber wollen nur nach Leipzig oder Dresden. Der Wunsch wird in naher Zukunft in weiter Ferne bleiben müssen.

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Ernste Stimmung in Bautzen beim Thema Schulen im ländlichen Raum: Ministerin Brunhild Kurth und ihr Schulnetzplaner Thomas Rechentin erklären die Mindestschülerzahl für Berufsschulzentren. Foto: Nicole Herzog

Oft geriet das Zeitlimit für eine Stunde Sachdiskussion zu kurz, einige Runden auch zu voll, so dass nicht jeder zum Punkt kommen konnte. Doch hier wirkt die vierfache Abfederung des Dialoges: Einerseits durch die Möglichkeit der direkten schriftlichen Einwendung am Tisch in die White Box – im Schnitt jeder zweite Teilnehmer nutzte diese Gelegenheit. Manche auch mehrfach, teils mit gleicher Schrift und gleichem Inhalt: Wiederholung als Mutter der Porzellankiste. Dazu gelangen die Diskussionspunkte per jeweiligen Protokoll der Experten und der Moderatoren in den Auswertungsprozess. Die vierte Säule war das rege genutzte Onlineverfahren.

Dialog schafft Nacharbeit

Zu den Erfolgsgaranten gehörten auch die ausgewählten Schulen und deren Personal als zumeist überaus herzliche Gastgeber. Die Hallen humanistischer Bildung, zwischen zwei und 600 Jahre alt, verströmen eine Atmosphäre, die wirksam zur Zivilität animiert. Letztlich waren es neun Abende mit rund 23 Stunden Diskussion, die nun ausgewertet werden. Insgesamt saßen fast 1 000 Bürger an den 41 Dialogtischen – bei 720 vorgesehenen Plätzen. Das heißt: Rund ein Fünftel schlich sich ohne Anmeldung in die Schulen, aber keiner wurde weggeschickt.

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Wichtige Schlussrunde: Die Moderatoren fassen die Tischergebnisse als erstes Fazit zusammen. Foto: Nicole Herzog

Sie alle schrieben im Nachgang genau noch 450 Einwendungen, die nun ebenso wie die jeweils 41 Gesprächsprotokolle von Moderatoren und Experten einfließen werden. Dazu kommt eine Welle von Online-Einwendungen – die bis zur Deadline am 7. März um Mitternacht anhielt. 795 Einwendungen kommen nun noch dazu. Plus die Stellungnahmen von über 50 sogenannter Träger öffentlicher Belange. Eine große Anteilnahme, die einerseits das Verfahren bestätigt, andererseits fast zwangsläufig enttäuschte Erwartungen fabriziert. Denn so vielfältig und widerstreitend die Wünsche umso härter der Kampf um die Ressourcen, um die es meist eigentlich geht.

Was bleibt?

Fakt ist: Die Bürger werden das Ergebnis des Dialoges messen: Was fließt jetzt an Änderungen in das Gesetz ein, welches Ende April in zweiter Kabinettsfassung an den Landtag gehen soll. Was tragen die zahlreich zuhörenden Landtagsabgeordneten in der Debatte noch bei, was bringt die nächste Anhörung – möglichst im großen Plenarsaal des sächsischen Landtags? Kurths Zeitplan hat sich während der neun Etappen nicht gewandelt: Start soll zum Schuljahr 2017/18 sein – dann folgt der Praxistest. Das erste Fazit von Kurth zum Bürgerdialog in dieser Form als echtes „Neuland“ geriet positiv: Inzwischen sei er auch bei etlichen Regierungskollegen als beste Praxis im Gespräch – Sachsen brauche mehr davon, sagte sie zum Abschluss in Chemnitz. Ihre mitreisenden Referats- und Abteilungsleiter würden das unisono bestätigen.

Link zum Gesetzentwurf und zur Synopse

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Über Andreas Herrmann:

Andreas Herrmann arbeitet als freier Journalist mit dem Schwerpunkt Kultur- und Landespolitik.

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