»Die DDR hat Spuren hinterlassen«

»Die DDR hat Spuren hinterlassen«

Seit 1. Mai 2021 ist Dr. Nancy Aris als neue Sächsische Landesbeauftragte für die Aufarbeitung der SED-Diktatur tätig. Wir haben mit ihr über ihre Arbeit gesprochen.

Text: Ralf Seifert

Sie sind seit 1. Mai 2021 die Sächsische Landesbeauftragte zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Was sind Ihre Aufgaben? Und womit beschäftigen Sie sich aktuell?

Unsere Aufgaben sind ganz vielfältig. Ich sehe meine Behörde in einer Scharnierfunktion: Wir beraten Menschen, die in der DDR aus politischen Gründen verfolgt wurden, und wir spiegeln deren Bedürfnisse in den politischen Raum zurück. Wir arbeiten DDR-Geschichte auf, dokumentieren Schicksale, markieren Orte und bringen dieses Wissen in die Öffentlichkeit – mit Veranstaltungen, Büchern, Ausstellungen und mit diversen Angeboten für Schulen. Unser Bildungsauftrag erstreckt sich auf Jung und Alt. Zu guter Letzt geht es um eine Stärkung der Erinnerungskultur im Allgemeinen, um die Vernetzung von verschiedenen Aufarbeitungsinstitutionen: Gedenkstätten, Vereine, Stiftungen oder etwa die Außenstellen des Stasi-Unterlagenarchivs.

Aktuell beschäftigen mich zwei Dinge besonders: Zum einen das ehemalige Frauengefängnis Hoheneck, wo ich mich dafür einsetze, dass dort rasch eine würdige Gedenkstätte errichtet wird, und zum anderen ein breit angelegtes historisches Spurensucheprojekt, mit dem wir Jugendliche für die Geschichte vor ihrer Haustür begeistern möchten.

Warum sollten sich Ihrer Meinung nach sächsische Schülerinnen und Schüler mit der SED-Diktatur auseinandersetzen? Welche Methoden sehen Sie dabei als besonders erfolgversprechend an?

Ich sehe in der Auseinandersetzung mit Geschichte generell eine Chance, einen Bezug zur Gegenwart zu finden, der über das rein Gegenwärtige hinausgeht. Eine Art Bodenhaftung oder Grundierung. Eine engere Beziehung zum Ort, in dem ich lebe. Letztlich geht es um eine stärkere eigene Identität. Die DDR liegt nicht so weit zurück, sie hat Spuren hinterlassen. Nicht nur in der Landschaft oder im Ortsbild, sondern auch in den Menschen, in der Art, wie sie mit anderen umgehen. Manche heutigen Probleme oder Eigenheiten lassen sich nur verstehen, wenn man diese Zusammenhänge kennt.

Ich habe keine Erfolgsrezepte für eine perfekte Bildungsarbeit, ich denke aber, dass regional verortete Geschichten besser funktionieren als die große Meistererzählung. Meine Erfahrung ist die, dass junge Menschen in der aktiven Auseinandersetzung mehr für sich mitnehmen – zum Beispiel bei einem Zeitzeugengespräch, bei dem sie selbst die Fragen stellen oder im Projektunterricht, wo sie etwas in die Hand bekommen. Ich bin ein Freund von Fragen: Mut zur Lücke!

Sie haben zusammen mit Clemens Heitmann das Buch »Via Knast in den Westen: Das Kaßberg-Gefängnis und seine Geschichte« herausgegeben. Welche Rolle haben Gedenk- und Erinnerungsorte im Bildungsprozess?

Ich halte authentische historische Orte für außerordentlich wichtig, weil sie wie eine Zeitkapsel die Erinnerungen vieler auf eine ganz besondere Weise in sich bewahren, bündeln und gleichzeitig verlebendigen. Die wenigsten DDR-Bürger saßen in einem Gefängnis oder mussten in einem Stasi-Vernehmungszimmer Rede und Antwort stehen. Kaum einer wusste, was hinter den Mauern passierte. Auch für sie sind solche Orte wichtig, weil man dort eine sinnliche Erfahrung macht und eine Ahnung davon bekommt, wie es den Inhaftierten ergangen sein muss. Das rechtlose Ausgeliefertsein, die Hilflosigkeit. Steht man in der ehemaligen Stasi-Untersuchungshaftanstalt auf der Bautzner Straße im Freigang, dann erfasst man das perfide System der Unterdrückung und Zersetzung der Häftlinge mit einem Blick. Für den Bildungsprozess ist es wichtig, Jugendliche dort nicht allein zu lassen. Das, was sie sehen, was sie erleben, muss besprochen, muss kontextualisiert werden. Es ist sehr sinnvoll Schülerinnen und Schüler vorzubereiten. Mit einer Fahrt in die Gedenkstätte ist es nicht getan, da braucht es eine Einbettung.

Die ehemalige DDR wird auch heute, nach über 30 Jahren nach der Friedlichen Revolution und trotz unzähliger fachwissenschaftlicher und medialer Beiträge zur Bearbeitung, noch immer verklärt oder politisch instrumentalisiert. Wie erklären Sie sich das?

Eine Verklärung wird es immer geben, allein, weil es in der DDR ja durchaus auch Befürworter des politischen Systems gab. Das darf nicht vergessen werden. Etwa jeder sechste DDR-Bürger war Mitglied der SED. Diese Menschen und damit ihre Positionen haben sich im Herbst ‘89 nicht plötzlich in Luft aufgelöst. Viele haben den Umbruch nach 1989 auch als einen dramatischen Einschnitt in ihr bisheriges Leben erlebt, als einen Verlust, aus dem sich die DDR rückblickend plötzlich heimelig vertraut anfühlte. Diese Transformationserfahrungen sollten wir ernst nehmen. Aber wir müssen den Verklärungen auch deutlich etwas entgegensetzen: Fakten und ein historisches Wissen, das mehrere Perspektiven zulässt.

Was ich bedenklich finde, sind Menschen, auch jüngere, die die Situation heute »schlimmer als in der DDR« finden. Da frage ich mich schon, welche DDR diese Menschen meinen. Aber auch hier gilt: Aufklären und mit den Menschen sprechen.

Lynn Winkler, Redakteurin für Social Media in der Pressestelle des Sächsischen Staatsministeriums für Kultus

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